Das Sprichwort ist pure Ironie; es gibt gar nicht vor, eine tiefe Lebensweisheit zu enthalten. Ist doch klar – wer schläft kann ja nicht gleichzeitig etwas Böses tun, oder? Dazu passt eine wahre Geschichte, die mir vor Jahren eine Richterin erzählte: Ein Mann war eines Vergehens beschuldigt worden, und es kam zur mündlichen Verhandlung vor Gericht – wo dann aber bewiesen wurde, dass der vermeintlich Schuldige zur Tatzeit im Krankenhaus im Koma gelegen hatte. Da hat der scheinbar so banale Spruch seinen „Sitz im Leben“[1] gefunden. Aber gibt es auch jenseits des Anekdotischen wirklich Anlass über das Sprichwort nachzudenken?

Der Geist ist willig…

In einer der ergreifendsten Passagen des Neuen Testaments[2] berichten uns die Evangelisten davon, was am Vorabend der Passion Christi geschah, im Garten Gethsemane. Jesus hat diesen beschaulichen Ort, eine grüne Oase abseits des Trubels und der Aufgeregtheit der Stadt, immer gern mit seinen Jüngern aufgesucht; so auch an diesem Tag. Man kann das Beruhigende des Ortes noch heute nachempfinden, wenn man dort im Schatten der Bäume auf die Stadt Jerusalem blickt. Ein Garten hat ohnehin immer etwas Tröstliches; man kann sogar an den Garten Eden, das Paradies denken. Unsere Vorstellung von einem paradiesischen Ort ist fast immer auf so ein Idyll bezogen[3].

Wohl wissend was auf ihn zukam, suchte Jesus also wieder diesen Garten auf, um sich zu sammeln und Kraft zu finden – im Gebet und im Kreis seiner Jünger. Wir wissen wie das ausging; seine Verhaftung stand bevor. Er war sich dessen bewusst und fürchtete sich; deshalb legte er wohl auch Wert auf die Nähe seiner Jünger. Er entfernte sich nur ein wenig von ihnen und bat sie darum, mit ihm zu wachen und zu beten.

Es muss ein langer und anstrengender Tag für sie alle gewesen sein. Seit dem Einzug in Jerusalem hatte eine immer stärkere Spannung in der Luft gelegen, eine anschwellende Feindseligkeit gegen Jesus und seine Jünger, die schließlich in mörderische Aggressivität umschlug. Im vermeintlich ruhigen Umfeld des Gartens Gethsemane muss dann die unerträgliche Spannung von den Jüngern abgefallen sein.  Erst jetzt merkten sie, wie todmüde sie waren. Kein Wunder also, dass ihnen die Augen zufielen.

… aber das Fleisch ist schwach[4]

Drei Mal kommt Jesus zu seinen Freunden zurück und findet sie schlafend. Aus seinen Worten an Petrus spricht Enttäuschung: „Konntet Ihr nicht einmal eine Stunde mit mir wachen?“[5]. Man fragt sich: Hatten sie den Ernst der Lage nicht erkannt? Waren sie zu selbstbezogen? Brauchten sie einfach ihre Ruhe? Für Jesus war das sicher belastend. Er hatte seine Freunde mitgenommen, weil sie ihm doch immer gefolgt waren und er sich auf ihre Hilfe verlassen konnte. Aber jetzt? Einer der Jünger fehlte ohnehin schon… Und die anderen übermannte der Schlaf, ausgerechnet in der Stunde größter Not.

Ich bin kein Freund von leichthin formulierten Jünger-Schelten – wie ungebildet sie angeblich gewesen seien, wie feige etc. Solche Aussagen haben oft einen unschönen Beigeschmack, als wollten wir uns damit reinwaschen; nach dem Motto „wenn schon die Jünger nicht besser waren…“  Aber hier, in dieser Stunde im Garten Gethsemane, hier sündigten die Jünger tatsächlich – im Schlaf.

Unterlassungssünden

Während wir gern den Kopf schütteln über Petrus und seine Verleugnung des Herren[6], kommt uns das Schlafen der Jünger im Garten irgendwie harmloser vor, verständlich sogar – eigentlich nicht wirklich verwerflich. Die Armen waren halt kaputt! Ihr Schlaf hat doch keinen Schaden angerichtet. Und am Ende ist ihnen Jesus ja auch nicht böse. Also, was soll’s?

Wer schläft sündigt nicht? In der englischen Sprachfassung des allgemeinen Schuldbekenntnisses der Kirche bekennen wir unsere Verfehlungen nicht nur „in Gedanken, Worten und Werken“, sondern auch unsere Sünden durch Nichttun („…what we have failed to do“). Das ist eigentlich eine wichtige Ergänzung, denn unsere Fehler und Verfehlungen durch Unterlassen dürften kaum weniger schwer wiegen, als jene durch falsches Handeln oder Sprechen. Und während wohl jeder zugeben muss, dass er schon mal etwas Falsches getan oder gesagt hat, worunter Andere zu leiden hatten, finden wir doch meist eine gute Ausrede für unser Nichttun.

Allzu menschlich …

Bin ich vielleicht verantwortlich für die Dummheiten meines Bruders? Ich hab’s ihm gesagt, und wenn er nicht hört – selbst schuld! Was geht mich der Streit meiner Freunde an? Wenn ich mich da einmische, mache ich alles nur schlimmer… Muss ich mich etwa um den Kollegen in Not kümmern? Ich kenne den kaum, und ich bin nicht das Sozialamt… So oder ähnlich klingen oft unsere Erklärungen, und man kann nicht einmal mit Sicherheit von Ausredensprechen, weil sich fast immer ein Körnchen Wahrheit darin findet. In den meisten Fällen geht es auch nicht um etwas wirklich Weltbewegendes. Und wir müssen unsere Kräfte einteilen. Wenn ich meinen depressiven Bekannten nicht zum Essen einlade, weil meine Familie Anspruch auf meine Anwesenheit hat, dann ist das tatsächlich eine echte Güterabwägung.

Manchmal freilich geht es auch wirklich ums Ganze. Wir hören, dass die Tochter eines guten Bekannten einen Termin zur Abtreibung hat, weil sie ihre Ausbildung noch nicht beenden konnte und der Kindsvater nichts taugt. Wir finden das traurig, schütteln vielleicht den Kopf. Aber wir sagen kein Wort. Aus Angst uns einzumischen, lassen wir etwas Schlimmes geschehen. Die Bandbreite ist also groß – vom immer wieder verschobenen Anruf bei der alten einsamen Tante bis zum Wegsehen wo es ums Überleben geht.

Jeder für sich, Gott für uns alle?

Aber es betrifft nicht nur die Familie, Freunde, Bekannte, Kollegen oder womöglich das gesellschaftliche Engagement. Es betrifft auch uns selbst. Wir wissen, dass eine bestimmte Gewohnheit nicht gut ist. Aber wir sind gerade im Stress und haben jetzt nicht die Kraft uns zu ändern. Wir sehen, dass wir ein ungenutztes Potential haben, aber wir strengen uns aus Trägheit[7] nicht an, oder wir lassen uns von Selbstzweifeln und negativen Reaktionen gleich entmutigen.

In allen diesen Fällen machen wir es ein wenig wie die Jünger in Gethsemane: An uns liegt es nicht; wir haben schon viel getan und auch genug eigene Sorgen. Was kann schon schiefgehen? Ich kann es nicht ändern!

Wer schläft sündigt nicht? Kommt wirklich ganz darauf an…


[1]„Sitz im Leben“ ist ein in Literaturwissenschaft bzw. Theologie beheimateter Ausdruck für den lebensweltlichen Hintergrund eines Berichtes, einer Erzählung, Parabel etc.

[2]Mt. 26, 36 ff.

[3]Vgl. den Beitrag „Das reinste Paradies“: https://erziehungstrends.info/das-reinste-paradies

[4]Mt. 26, 41: „Wacht und betet, damit Ihr nicht in Versuchung geratet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“.

[5]Mt. 26, 40. Bei Lukas klingt es noch etwas schärfer: „Wie könnt Ihr schlafen?“ (Lk. 22, 46).

[6]Vgl. Lk. 22, 54-62

[7]Vgl, den Beitrag über das Laster der Trägheit: https://erziehungstrends.info/die-sieben-todsuenden-traegheit-acedia