(Bild-Ausschnitt: „Die Sieben Todsünden und Die vier letzten Dinge“ – Hieronymus Bosch. Kommentar zum Bild-Ausschnitt: Hier ist die „Trägheit des Geistes“ gemeint. Ein Geistlicher hat es sich in seinem Lehnstuhl bequem gemacht, die Bibel liegt geschlossen neben ihm. Eine Nonne will ihm den Rosenkranz reichen, aber er schaut gleichgültig weg. Zum vollständigen Gemälde gelangen Sie -> hier )

Ein Wolf im Schafspelz

Unter den sieben Hauptsünden gelten traditionell die „geistigen“ (HochmutHabsuchtNeid und Zorn) gegenüber den im engeren Sinne „physischen“ Sünden (Völlerei und Wollust) als noch „gefährlicher“, weil sie schwerer zu erkennen sind und gleich auf unterschiedlichen Ebenen zerstörerisch wirken[1]. Die Trägheit[2] nimmt dazwischen gewissermaßen eine Mittelstellung ein.

Denn dieses Laster scheint, oberflächlich betrachtet, einfach in einer Art von physischer Disposition minderer Verwerflichkeit zu wurzeln, einer Schwäche, der fast jeder normale Mensch zum Opfer fallen kann. In Wahrheit geht es aber um eine innere Haltung mit besonders verheerenden Wirkungen. Das macht dieses Laster schwer fassbar und dadurch besonders tückisch.

Freispruch für die Hängematte

Fast jeder ist spontan beunruhigt, wenn er hört oder liest, dass Trägheit eine schwere Sünde ist. Sofort fühlt man sich irgendwie schuldig, zweifelt aber auch: Ist es nicht einfach menschlich, mal „alle Viere von sich zu strecken“ und so richtig zu entspannen? Muss man nicht sogar mal ausspannen, wenn man lange „den Karren gezogen“ und fleißig gearbeitet hat? Die Antwort lautet: Ja!

Natürlich ist das nicht nur zulässig, es ist vernunftgemäß und sogar geboten. Die Hängematte oder der Liegestuhl sind nicht die Orte, an denen typischerweise das Laster der Trägheit lauert. Selbst wenn man es schon mal zu weit treibt mit dem Ausruhen und dann den „Chill-Out“ ungebührlich in die Länge zieht, begibt man sich nicht automatisch in die Niederungen des Lasters. Der Hauptsünde Trägheit/ Acedia stehen als Gegenteil nicht Fleiß, Aktivität und Betriebsamkeit gegenüber[3] sondern GlaubeHoffnungLiebe[4].

Faulheit, Trägheit, Gleichgültigkeit…?

Auch bloße Faulheit ist natürlich nichts Gutes und kann durchaus verwerflich sein, wirkt aber nicht so verheerend wie Trägheit in dem hier gemeinten Sinne. Einfache Faulheit kann ein Indiz für das Laster der Trägheit sein bzw. eine Folge davon. Vermutlich fallen aber der Acedia mindestens ebenso viele „Workoholics“ wie Faulpelze zum Opfer, denn es geht hier um „Trägheit des Herzens“, um moralische Gleichgültigkeit und Desinteresse an Wahrheit und Spiritualität.

Jemand mag sogar überaus aktiv sein, engagiert und dynamisch wirken, und dennoch kann er diesem Laster verfallen sein. Hyperaktivität schützt nicht vor innerer Leere, und wer sein Leben ganz am Materiellen ausrichtet, Glauben und Spiritualität verächtlich abweist, der wird leicht Opfer von Depression, wenn etwas schief geht, die Spannung nachlässt, existenzielle Fragen auftauchen. Dann rächt sich der Mangel an Offenheit für das Transzendente; die Folgen für den Betreffenden können verheerend sein. Hier zeigt sich deutlich, warum „Acedia“ auch „mürrisches Wesen“ und „üble Laune“ bedeutet.

Relativismus

Der große protestantische Theologe Karl Barth hatte gewiss Recht, als er die Acedia (mehr noch als den Hochmut) als das typische Laster unserer Zeit charakterisierte[5]. Der in unserer Gesellschaft längst endemisch gewordene moralische und religiöse Relativismus und Indifferentismus ist letztlich Ausdruck dieser Haltung. Die Pilatus-Frage[6]„was ist Wahrheit?“ ist geradezu zum Motto unseres Lebensstils geworden, vom Alltagsleben bis in universitäre Oberseminare. Mit der achselzuckenden Infragestellung der Wahrheit oder der Möglichkeit sie zu erkennen, scheint man auf der sicheren Seite zu sein. Klingt das nicht ungemein tolerant und diskursorientiert?

Merkwürdig, dass sich so viele Zeitgenossen – auch in der Kirche – bei diesem Pilatus-Wort so geborgen fühlen, offenbar vergessend, dass es als Widerspruch zu Jesus gedacht war, als diesem der Prozess gemacht wurde… Die Folgen des Relativismus und der Dekonstruktion[7] aller Werte liegen in unserer Gegenwart auf der Hand[8]. Aber auch hier – wie schon in früheren Fällen, bei der Betrachtung anderer Laster – müssen wir innehalten und den Blick auf das Leben der Einzelnen richten.

Den lieben Gott einen guten Mann sein lassen

Das Laster der Trägheit/Acedia ist nicht nur ein gesellschaftliches Problem, sondern an erster Stelle eine Gefahr für den einzelnen Menschen. Wir alle kennen das, es begegnet uns buchstäblich jeden Tag, im Arbeitsumfeld, im Freundeskreis, in der Familie. Die Haltung des Desinteresses, der moralischen Gleichgültigkeit, des „was soll‘s…“: Jeder hat seine Werte, der eine so der andere anders… Ich halte mich da raus… Mich betrifft es nicht… Jeder wie er will… 

Die etwas frivole Redensart, man müsse „auch mal den lieben Gott einen guten Mann sein lassen“ spiegelt unfreiwillig die Haltung der geistigen bzw. geistlichen Trägheit wider. Was zunächst einfach nach einer Aufforderung zur Entspannung klingt, vielleicht zum Beenden angestrengter, emotional aufgeladener Diskussionen, das schafft ungewollt falsche Konnotationen: GottReligion Moral gleich AnstrengungEntbehrungSpaßbremse. Ein ganz altes Muster übrigens, das auf paradigmatische Weise schon im Alten Testament dargestellt wird, wo diese Haltung den Menschen gleich zu Beginn das Paradies verdirbt[9]Warum sollte Gott dies und das von uns verlangen? Macht doch nichts…

Falsche Bescheidenheit

Aber Trägheit des Herzens, Blindheit für das dem Einzelnen Mögliche und Gebotene kann  manchmal auch in vorgespielter Demut und falscher Bescheidenheit stecken: Was kann ich schon ändern? Ich bin es nicht gewesen… An mir liegt es nicht… Wenn aber die Menschen guten Willens resignieren, schweigen, passiv bleiben, dann überlassen sie das Feld den Ideologen, Tricksern, Verwirrern[10], in der Gesellschaft ebenso, wie im Leben der Einzelnen. Für Kinder – die mit ihrem feinen Sensorium für Wahrheit und Gerechtigkeit leicht die verhüllenden Redensarten durchschauen – ist es ein verheerendes Beispiel, wenn ihre Eltern oder Lehrer sich erkennbar „aus dem Spiel nehmen“, das Feld anderen überlassen, den u.U. selbst postulierten Ansprüchen nicht gerecht werden.

Was tun?

Das Neue Testament ist eine einzige Aufforderung zu Freude und Empathie, Hilfsbereitschaft und Mut. Gegen Furchtsamkeit und Selbstzweifel hilft es, sich an Jesu Zusage an seine Jünger (die auch uns gilt)  zu erinnern, dass sie nie allein sein werden[11].

Falsche Bescheidenheit wird zerstreut, wenn wir einen Blick auf diese Jünger werfen, die meist einfache und bescheidene Leute waren, aber doch Unerhörtes bewirkten. Und vielleicht ist die Lektüre der Apostelgeschichte in diesem Zusammenhang besonders erhellend: Ich kenne kein anderes geschichtlich überliefertes Dokument, das so überzeugend und zugleich so nüchtern beschreibt, was in Menschen steckt, die ihren Glauben ernst nehmen und einfach das ihre tun. Sie verändern die Welt.


[1] Bei den „geistigen“ Lastern ist die doppelt schädliche Wirkung – auf den Einzelnen und die Gesellschaft – direkt, unmittelbar und besonders ausgeprägt .  

[2] Das in der klassischen Philosophie gebräuchliche lateinische Wort „acedia“ (vom altgriechischen Begriff  ἀκήδεια, Nachlässisgkeit, Gleichgültigkeit) bedeutet sowohl stumpfsinnige Uninteressiertheit, als auch mürrisches Wesen, üble Laune.

[3] Diese sind eher das Gegenteil der einfachen Faulheit.

[4] Vgl. Beiträge zu den „theologischen“ oder „göttlichen“ Tugenden.

[5] Zitiert bei Robert Barron: https://www.youtube.com/watch?v=wG4VF0jU568&ab_channel=DioceseofRaleighMinute 35,19 ff.

[6] Vgl.  Joh. 18,38.

[7] In der neueren Geistesgeschichte gibt es eine breite Tendenz zur Bekämpfung und Verdrängung christlicher Werte und Erkenntnis, besonders von Nietzsche bis  Foucault.

[8] Von der um sich greifenden Bindungs-Scheu über die Genderideologie und die Demontage der Ehe bis zu Abtreibung und Euthanasie.

[9] Vgl. Gen. 3, die Sündenfallgeschichte, in der die Haltung des Menschen zunächst weniger die der offenen Rebellion gegen Gott zu sein scheint, als Gleichgültigkeit seinen Geboten gegenüber. Daraus folgt alles Weitere.

[10] Nicht zufällig bedeutet das Wort „Diabolos“ der Durcheinanderwerfende, der die Dinge verwirrende.

[11] Lk. 12, 2-12 (Aufforderung zu furchtlosem Bekenntnis). Vgl. a. Joh. 14, 15 ff.