Neulich sah ich eine wunderbare Film-Doku über die Tierwelt im Okawango-Delta in Afrika. Inmitten einer endlosen Wüsten- und Steppenlandschaft tat sich vor den Augen des Betrachters plötzlich zauberhafte Natur auf – eine grün schimmernde Idylle mit gewaltigen Baumkronen, riesigen Wiesen, malerischem Dickicht und glitzernden Wasserläufen. Wie immer, wenn ich als Naturfreund, der sich auf jedem Bergpfad und bei jeder Aussicht ins Grüne am wohlsten fühlt, so etwas sehe, musste ich denken: „wahrhaft paradiesisch…!“. Und tatsächlich, es dauerte nicht lange, bis auch die wohlklingende Stimme des Kommentators die kunstvoll gefilmte Szenerie genau so beschrieb: „ein wahres Paradies“! Als dann allerdings ein Rudel Hyänen vor laufender Kamera eine Antilope riss und eine Löwin einem Büffel die Kehle durchbiss, war mein auf Idyll gestimmtes Gemüt ein wenig verunsichert. Was ist da los im Paradies?

Ist die Natur ein Paradies?

In solchen Momenten freue ich mich zunächst, quasi zum Ausgleich, an unseren mitteleuropäischen Idyllen, in denen keine Krokodile wehrlose Zebras zerreißen und keine Riesenschlangen zierliche Gazellen ersticken. Aber dieser Trost hält nur so lange an, wie ich nicht genauer hinschaue. Denn der Todeskampf der Biene im Spinnennetz und das blutige Ende des Häschens im Adlernest sind ja auch nicht im ursprünglichen Wortsinne „paradiesische“ Vorkommnisse, obgleich sie sich inmitten von Naturparadiesen ereignen. Trotzdem empfinden wir ein ungestörtes Gleichgewicht in der Natur als „paradiesisch“.

Das Gegenbild dazu ist die vom Menschen beschädigte Umwelt, das verlorene Gleichgewicht der Natur. Paradiesisch ist es also, wenn wir es noch nicht kaputt gemacht haben… Erinnert uns da etwas an das verlorene Paradies? Aber während die „Sündenfallsgeschichte“ der Bibel[1] so beklemmend persönlich ist, dass wir uns immer irgendwie direkt angesprochen fühlen, delegieren wir heutzutage die Schuld lieber an Andere, an die unpersönliche Gattung Mensch, zu der wir zwar gehören, deren Schuld wir aber nicht teilen mögen.

Keine „Schuld“ in der Natur?

So wie man im Alltagsleben einem Wildtier, das einen Wanderer anfällt, keine „Schuld“ im menschlichen Sinne anrechnet, so trübt offenbar das Fressen-und-Gefressenwerden im natürlichen Umfeld nicht unser Bild vom „paradiesischen Zustand“, weil Leid und Gewalt darin quasi „unschuldig“ vorzukommen scheinen, jedenfalls nicht als schuldhaft anrechenbar. Das klingt als Erklärung alltagstauglich, auch wenn die philosophischen Prämissen unklar bleiben – und es gilt natürlich auch nur solange, wie wir nicht selbst manifesten Naturgewalten unterworfen werden[2].

Dennoch (bzw. gerade deshalb) kann man keine Sekunde lang vergessen, dass das Wort vom „Paradies“ hier nur als Metapher verwendet wird, als bewusst bildhafte, vergleichende Annäherung an etwas Anderes, Größeres. Außerdem distanziert uns der Gedanke an die „Unschuld“ der Natur automatisch von dieser; denn dass es unter Menschen Schuld gibt, wird auch der kälteste Zyniker und hartnäckigste Atheist nicht leugnen können. Da haben wir begrifflich ein „Paradies der Tiere“ postuliert und uns im gleichen Atemzug ungewollt selbst daraus vertrieben. Eine Aporie. Wir kommen nicht so leicht rein ins Paradies…

Philologisches

Betrachten wir einmal die Herkunft dieses Wortes „Paradies“. Das im Alten Testament verwendete Wort geht – genau wie die griechische Fassung im Neuen Testament[3] – auf ein altpersisches Wort zurück: pairidaêza, was ursprünglich einfach „Gehege“ bedeutet. Dahinter steht die Vorstellung von einem geschützten, eingehegten Terrain, oft als ummauerter wasserreicher Garten verstanden, in dem man sicher ist und sich wohlfühlen kann. Das war in einer Gegend, die schon in der Antike oft von Trockenheit bedroht war[4], ein unmittelbar eingängiges Bild.

In der biblischen Literatur kommt das Wort aber nicht in der profanen Verwendung vor[5], sondern stets im Sinne eines Ortes überirdischer Glückseligkeit, eines Ortes, der aus der weltlichen Begrenztheit herausgehoben ist. So ist der paradiesische Urzustand des „Garten in Eden“[6] Welten entfernt vom nur scheinbar „paradiesischen“ Okawango-Delta. Die Kernaussage jener biblischen Geschichte von der „Vertreibung aus dem Paradies“ umfasst genau dieses: Im „echten“ Paradies gibt es kein Leiden und keine Schuld. Die Welt in der wir leben, ist also nicht Teil davon, denn in ihr gibt es fortwährend auch Leid und Tod und Schuld.

Was in der bildhaften Sprache der Genesis noch irgendwie fern und allgemein zu sein scheint, auf ferne, mythisch wirkende Vorzeit bezogen, das wird im Neuen Testament schließlich sehr konkret und ganz persönlich: In dem Wort das Jesus am Kreuz zu dem reuigen Mitverurteilten spricht: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradies sein“[7]. Da geht es nicht um Gartenfreuden, sondern um Erlösung im tiefsten Sinne, nicht um eine Atempause im Lauf des Vergänglichen, sondern um die Rückkehr zur vollständigen Geborgenheit in Gott. Ein „Gehege“ ganz unvergleichlicher Art…

Das säkularisierte Paradies

In unserem Alltags-Sprachgebrauch reden wir dagegen von einem nur relativ geschützten Bereich, in dem außerdem die exakt selben Regeln und Gesetze gelten wie außerhalb. Die Metapher vom Paradies ist entleert, wenn der Sprecher gar nicht mehr von der Existenz eines echten Paradieses ausgeht. Das Bild tritt an die Stelle der Sache, die in unserem materialistischen Selbstverständnis keinen Platz mehr hat.

Wenn man nur materielle, immanente Wirklichkeiten kennt, dann ist eben auch ein „Paradies“ immer nur für einige Bewohner paradiesisch (und das auch nur auf Zeit), für andere aber ist es womöglich die Hölle. In säkularen Paradiesen gilt Fressen und Gefressenwerden, dagegen hilft auch kein Veganismus, solange man die vielen Carnivoren nicht aus dem Paradies vertreiben, also ausrotten will. Die kontingenten Paradiese sind nicht „himmlischer“ als der säkularisierte Himmel: Materie, kalt, gefühllos. Und deshalb bleibt so ein nur relatives oder metaphorisches Paradies philosophisch gesehen eine zutiefst unbefriedigende Sache. Man kann sich einreden, damit zufrieden zu sein, aber im Innern weiß man um die Trostlosigkeit dieses Schein-Paradieses[8].

In der postmodernen und a-christlichen Gesellschaft sind verklärende, romantisierende Naturbegriffe weit verbreitet. Die unstillbare Sehnsucht des Menschen nach Sinn und Dauer soll dadurch übertönt bzw. betäubt werden, dass die Natur gewissermaßen deifiziert, vergottet wird, was kulturgeschichtlich einen schroffen Regress in atavistische Denkmuster darstellt. Ganz konsequent wird schließlich in solchen Gedankengebäuden früher oder später der Punkt erreicht, an dem der Mensch zum „Schädling“ deklariert wird, zum Schadensfall eines Planeten[9], der sich angeblich zuvor in einem paradiesischen Urzustand befunden habe.

Ein trostloses Narrativ

Erstaunlicherweise fällt den Wenigsten auf, dass es sich bei dieser Weltsicht um eine säkularisierte und ihres eigentlichen Sinnes entleerte Sündenfallsgeschichte handelt. Auch in der postmodernen und säkularisierten Geschichte vom verlorenen Paradies ist die Schuld nicht zu verstecken. Der Mensch verspielt durch seine Hybris das Paradies. Nur fühlt er sich nicht mehr dem Schöpfer verantwortlich, sondern nur noch dem Geschaffenen gegenüber. Infolge der Ablösung des Narrativs vom transzendenten Kern verliert das aber alles seinen Sinn.

Vor allem stirbt jede Hoffnung, verschwindet jeder Trost, wenn da niemand mehr ist, der uns zurufen kann: „Heute wirst Du mit mir im Paradies sein!“. Das kokette existenzialistische Beharren[10] auf der Sinnlosigkeit ist so ziemlich das traurigste Weltbild, das man sich vorstellen kann. Da ist dann das Paradies des Okawango-Deltas buchstäblich das höchste der Gefühle. Schön genug? Die meisten Bewohner sind da Beutetiere, und der Herrscher ist das Krokodil.


[1] Gen. 3

[2] Bezeichnenderweise machen wir dann eher Gott Vorwürfe – wie konnte er es zulassen, dass jemand von einem wilden Tier attackiert wurde…

[3] Althebr. „Paredis“. Altgriech. παράδεισος (Paradeisos)

[4] Auch wenn der nahe und mittlere Osten damals offenbar noch nicht so aride waren wie in unserer Zeit; vgl. den Ausdruck „fruchtbarer Halbmond“ für Landschaften, in denen heute nurmehr punktuell von Fruchtbarkeit des Landes die Rede sein kann, inmitten von Steppen und  umgeben von Wüsten.

[5] Vgl. Walter Bauer: Wörterbuch zum Neuen Testament. 5. Aufl., Berlin/New York 1971, Sp. 1217.

[6]  Nach Gen. 2, 8 der Ort, den Gott für den Menschen als Wohnstätte schuf.

[7]  Lk. 23,43

[8] Das sich Einleben in diese endgültige und aussichtslose Tristesse ist der Kern des Existentialismus, in reinster Form  zu finden bei Albert Camus.

[9] Eine Attitüde, die zuriefst paradox und zugleich im eigentlichen Wortsinne un-menschlich ist.

[10]„Verewigt“ in Albert Camus’ „Der Mythos des Sisyphos“. Vgl. Anm. 8.