„Eins, zwei, drei im Sauseschritt nehm ich alle Kinder mit.[ … ] Bücken, strecken, ringsum drehn, viermal klatschen, stampfen, stehen“, heißt es in einem Kinderlied für ein Bewegungsspiel aus dem Jahr 1991. Der Text spiegelt den Zeitgeist der Prä-Internet-Ära noch einmal wider. Denn von da an wird es nicht mehr lange dauern, bis ein fundamentaler Wandel in der Mediennutzung, eingeläutet durch den massenhaften Gebrauch der sogenannten quartiären Medien, den Menschen von einem „Perpetuum mobile“ zu einem Sitzenbleiber gemacht haben wird. Die meisten, die die Zeit vor dem Einzug des Internets in den heimischen Wohnzimmern, aber auch in den Schulen noch miterleben durften und nicht nur aus Erzählungen kennen, wissen, was es heißt, den ganzen Tag draußen im Freien zu sein, herumzutollen und Spaß an der Bewegung zu haben. 

War es für die Eltern damals ein wirklich diskussionsintensives Unterfangen, die Kinder in ihrem Bewegungstrieb zu unterbrechen und zeitgerecht nach Hause zu holen, müssten umgekehrt die Eltern der Generation „Fortschritt-Rückschritt“ wiederum diskussionsintensiv darum bemüht sein, ihre Sprösslinge zu mehr Bewegung anzuhalten und an die frische Luft zu gehen. Der Konjunktiv „müssten“ verdeutlicht leider eine weitere besorgniserregende Tendenz des Fortschritts, wonach vielen Eltern aufgrund beruflicher Karriere und sonstigem Alltagsstress die letzte Konsequenz in der aktiven Freizeitgestaltung ihrer Kinder fehlt und sie somit in der Präsenz der neuen technischen Möglichkeiten bequeme Babysitter sehen, der die Kinder ganztägig beschäftigt und damit „ruhigstellt“ . 

Und so würde fast ein Vierteljahrhundert später eingangs der zitierte Liedtext wohl ein wenig anders klingen: „Eins, zwei, drei ins Internet, den ganzen Tag bin ich im Chat, sitzen, lungern, und nur hocken, googeln, liken und viermal zocken!“ 

Fortschritt vs. Rückschritt 

Fortschritt in diesem Zusammenhang bedeutet, dass mit ständig zunehmender Technisierung und der immer grösser werdenden medialen Vernetzung des Menschen das Leben nach und nach erleichtert wird. Medienkonsum und Autobenutzung haben den Status von Wohlstand und sind nicht mehr wegzudenken. 

Viele kleine Helfer im Alltag übernehmen sukkzessive körperliche Aktivitäten und degradieren den Menschen zum bewegungsfernen Individuum. Die Möglichkeit, ohne viel Bewegung etwas zu erledigen, ist Leitbild für viele Handlungen. Bequemlichkeit, Komfort und Zweckmäßigkeit entsprechen eher dem Zeitgeist als körperliche Anstrengung; so ist es beispielsweise wesentlich bequemer, mit dem Fahrstuhl zu fahren, als die Treppe zu benutzen. Oder es ist schlicht zweckmäßiger die Kinder mit dem Auto in die 3 Blöcke weiter entfernte Schule zu bringen, weil dies vielleicht einige Minuten schneller geht. 

Hand in Hand mit der Technisierung geht ein übermäßiger, in vielen Fällen fast schon maßlos-krankhafter Medienkonsum einher. Medien wie Fernseher, Video, Konsole und Smartphone sind stets präsent und bestimmen das Freizeitverhalten der Kinder. 

Ihrem natürlichen Bewegungsdrang stehen so heutzutage inaktive, fast völlig bewegungslose Lebensgewohnheiten gegenüber, wie zum Beispiel langes Sitzen im Unterricht, Fernsehen, Spielen und Chatten am Computer oder Handy. 

Der Fortschritt einer im zunhemenden Maße technisierten und motorisierten Welt einerseits, bedeutet aber andererseits die Entfremdung der Kinder von bestimmten Bewegungsroutinen, was zu einer deutlichen Bewegungsverminderung beziehungsweise Bewegungsarmut führt. Der Rückschritt folgt dem Fortschritt also auf dem Fuß: Es handelt sich hier nämlich um einen Rückschritt in der altersadäquaten Entwicklung. Eine Entwicklung, die um wesentliche Aspekte von Bewegungserfahrungen reduziert ist. Gerade in diesem Alter ist das Erlernen elementarer motorischer Handlungen wie springen, werfen, fangen, balancieren etc. besonders leicht und wird in spielerischer Art verinnerlicht. 

Wie für viele andere Fähigkeiten auch gilt für die motorische Entwicklung, dass es bestimmte Entwicklungszeiten (sogenannte neurologische Fenster) gibt, in denen Fähigkeiten besonders schnell gelernt werden. Werden diese Chancen verpasst, können sie im späteren Leben – wenn überhaupt – nur unter großen Schwierigkeiten nachgeholt werden. Denn der Körper als perfekter Ökonom passt sich den neuen Verhaltensweisen an und optimiert sie dahingehend, dass nicht mehr benutzte Funktionen rückentwickelt werden. 

Dies führt dann dazu, dass sich Kinder auch mit zunehmendem Alter weniger bewegen und eine bewegungsferne (und vermutlich verletzungsanfällige) Karriere vorgezeichnet ist. 

Studien belegen, dass immer mehr Kinder sich immer weniger bewegen. So erreichen immer weniger Kinder das Bewegungspensum von einer Stunde täglich, welches von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die Erhaltung der körperlichen, seelischen und sozialen Gesundheit und zur Vorbeugung vor Krankheiten empfohlen wird.
Die Folge von mangelnder Bewegung führt dann schon bei Kindern zu körperlichen Auswirkungen, vor allem Haltungsschäden und Übergewicht, aber auch durch mangelnde Ausdauer und Kraft, zu Muskelverspannungen oder Rückenschmerzen. 

Koordinative Fähigkeiten als heiliger Gral 

Auf neuronaler Ebene entstehen durch Bewegungserfahrungen neue Netzwerke und Verknüpfungen im Gehirn und führen so zum Abspeichern bestimmter Bewegungsmuster und -sequenzen, die bei Bedarf und anderer Gelegenheit wieder abgerufen werden können – vorausgesetzt sie wurden einmal gemacht. Und je verzweigter dieses Bewegungsnetzwerk nun entwickelt ist, desto umfangreicher ist dann auch das motorische Repertoire.
Daraus lässt sich eine gewisse „Plastizität der Bewegung“ ableiten. Das heisst nichts anderes, als dass einmal gemachte und verinnerlichte Wahrnehmungen, Erfahrungen und erlernte Bewegungsabfolgen aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und in einem völlig neuen Zusammenhang angewandt werden können. So sagt man ja über manche Menschen, sie tun sich besonders leicht beim Erlernen einer neuen Sportart. Tennisspieler sind meistens auch gute Squashspieler, Fussballspieler sind auch in anderen Ballsportarten sehr versiert usw. 

Diese Anpassungsfähigkeit resultiert aus einem grossen Vorrat an Bewegungserfahrungen, dh. sportartspezifische Bewegungsanforderungen können dann auch in anderen Zusammenhängen (anderen Sportarten und/oder in Alltagssituationen) abgerufen werden. 

Vergleichbar ist das mit dem Erlernen einer neuen Sprache: Ganz zu Beginn steht das Erlernen von Vokabeln. Je mehr Vokabel gelernt werden, desto größer ist der Wortschatz in dieser Sprache. Und je mehr dieser Wortschatz durch regelmäßige Anwendung (Übung) zum Einsatz kommt, desto flüssiger und situationsadäquater werden die Möglichkeiten, sich in dieser Sprache auszudrücken. 

Und ganz ähnlich verhält es sich mit den motorischen Fähigkeiten: Je mehr sich ein Kind in frühen Jahren bewegt und dadurch Bewegungserfahrungen sammelt, desto größer ist das Repertoire an abrufbaren Bewegungsmustern und somit der „Bewegungsschatz“ . Je häufiger Bewegungsmuster in unterschiedlichsten Situationen abgerufen werden, desto optimierter wird das Zusammenspiel von Sinnesorganen, Gehirn und der Skelettmuskulatur. Mit anderen Worten: Die Gesamtkoordination verbessert sich. 

Im Gegensatz dazu werden Bewegungserfahrungen, die ein Kind nie gemacht hat und somit auch nicht abgespeichert sind, in keiner Situation zum Abruf bereitstehen. Solche Kinder sind in ihren Bewegungen meist auch sehr unsicher und ungeschickt, verlieren schnell das Gleichgewicht (fallen also oft hin), und folglich verletzen sie sich viel häufiger als diejenigen, die sich ständig bewegen. 

Rolle von Eltern, Politik und Verantwortungsträgern 

Kinder brauchen Vorbilder. Im Normalfall sind das die Eltern. Denn diese beinflussen durch ihre Lebensgewohnheiten die ihrer Kinder ganz wesentlich. Wird von den Eltern und anderen Erwachsenen vorgelebt, dass körperliche Aktivität wie beispielsweise manche Wege mit eigener Muskelkraft zu erledigen uncool ist, dann wird sich das auf das Verhalten der Kinder auswirken. Es ist für heutige Jugendliche normal, dass selbst kurze Wege mit dem Auto erledigt werden und viele Stunden der freien Zeit bewegungslos vor dem Fernseher oder Computer verbracht werden, weil viele Eltern dies vorleben. 

Umgekehrt ist es wissenschaftlich belegt, dass Kinder von sportlich aktiven Eltern häufiger Sport treiben, als Kinder von sportlich inaktiven Eltern.
Auch beim Medienkonsum ihrer Kinder sind vor allem die Eltern in die Pflicht zu nehmen hier verantwortungsvoll mit diesem Thema umzugehen. Der Medienkonsum darf zu keiner Verdrängung von sportlichen Aktivitäten oder dem klassischen Spielen an der frischen Luft führen. Hier haben die Eltern dafür zu sorgen, dass der Medienkonsum ihrer Kinder sich in einem vernünftigen Rahmen bewegt. Dies könnte dadurch erreicht werden, dass der Medienkonsum auf fixe Zeiten beschränkt wird. Aber genau an diesem Punkt entstehen Missverständnisse, denn viele Eltern sehen gerade in den Medien praktische und bequeme Babysitter, die ihnen viel Arbeit abnehmen, nämlich das Sich-beschäftigen mit dem eigenen Kind. 

Da Eltern aus unterschiedlichsten Gründen als die Bewegungsvorbilder für ihre Kinder also anscheinend immer mehr an Strahlkraft verlieren und sich generell die Erziehung der Kinder immer mehr in institutionalisierte Einrichtungen wie Kindergarten und Volksschule verlagert, müssen dementsprechend hier die Möglichkeiten einer bewegungsorientierten Grundversorgung gelegt werden. 

Denn wenn Kinder mit 12 oder 13 Jahren noch immer nicht wissen (und hier handelt es sich nicht um Einzelfälle), wie man zum Beispiel das Fußgelenk ansteuert, um es kreisen zu lassen, weil es eben noch nie gemacht wurde – oder besser ausgedrückt: weil es einfach nie gelernt und damit abgespeichert wurde -, dann ist selbst die tägliche Turnstunde nur noch Makulatur, weil die entsprechenden neurologischen Fenster bereits so gut wie geschlossen sind. Hier ist es von essentieller Bedeutung für die adäquate motorische Entwicklung der Kinder bereits im Kindergartenalter mit gezielten regelmäßigen Übungen die neuronale Vernetzung anzuregen. 

An diesem Punkt sind sowohl Politiker als auch andere Verantwortungsträger wie Dachverbände, Vereine, Ärzte und Versicherer und andere aufgefordert, auf sich abzeichnende Veränderungen entsprechend zu reagieren. Literatur, Zeitungsartikel und Fachkommentare warnen seit Jahren. Diese Thematik ist seit der Jahrtausendwende unzählige Male in den Medien präsent gewesen. Dennoch wird der körperliche Befund der Kinder immer schlechter. Und in einem Punkt sind sich wohl alle klar: die körperlich rückschrittlich und verwahrlosten Kinder von heute sind die kranken Erwachsenen von morgen. Die Politik darf gegebenenfalls auch nicht davor zurückschrecken, schärfere Regeln im Umgang von Kindern mit Medien aufzustellen, was beispielsweise in eine Art Altersfreigabe für Handy, Playstation und Co. münden könnte. 

Auf der anderen Seite zeigen verschiedene Initiativen, wie mehr Bewegung in die täglichen Routinen der Kinder gebracht werden kann:

Die Initiative „Spokimo“ des Sportvereins „Sporty People“, zeigt PädagogInnen und AssistentInnen, Eltern, Kindern und Erziehungsberechtigten Möglichkeiten und Ideen für Turn- und Bewegungsaufgaben. Dazu wird jede Woche eine neue Übung von SportlehrerInnen vorgestellt, die dann im Rahmen von Schule, Kindergarten und/oder Freizeit täglich in wenigen Minuten durchgeführt werden kann. Die regelmäßige Durchführung kleiner Bewegungsaufgaben verbessert die Bewegungssicherheit, schafft ein positives Körpergefühl und beeinflußt vor allem auch die geistige Entwicklung der Kinder positiv. Mittlerweile hat der Sportverein ein Pilotprojekt mit dem Wiener Stadtschulrat ins Leben gerufen, wo die täglichen kleinen Bewegungsaufgaben direkt in der Klasse mit den LehrerInnen durchgeführt werden. Unter allen teilnehmenden Schulen wird dann ein Sportfest für die gesamte Schule verlost. Das Pilotprojekt soll im Herbst fortgesetzt werden, denn „es gibt Anfragen von Schulen aus ganz Österreich, dieses Projekt in Zukunft über die Grenzen Wiens hinaus durchzuführen“, berichtet die Obfrau des Vereins. 

Eine andere Initiative versucht Bewegung und Kultur zusammenzuführen. Mit „MuTh zum Sport“ bietet das „MuTh“ Kindern und Jugendlichen einen betreuten Nachmittag auf den Sportplätzen im Wiener Augarten, der sowohl die Lust am Bewegen fördert als auch unterhält. Auf dem Programm stehen sportliche Schnitzeljagden, Fußballtraining, Zumba für Kids oder auch die Hindernis-Trendsportart Parcour. Dies ist ein Anfang es bräuchte aber noch viel mehr Bewegungsinitiativen.