Was sollte Studenten wichtiger sein, ein guter Job oder ein erfülltes Leben? – Gegen eine gute Ausbildung ist nichts einzuwenden; ein erfüllender beruflicher Werdegang ist wichtiger Bestandteil eines guten Lebens. In meiner Arbeit an der Universität habe ich mich über viele Jahre der Berufsvorbereitung gewidmet. Ich war damals Dekan der medizinischen Fakultät und es gab natürlich noch weitere Vorbereitungskurse in den anderen Fakultäten. Unsere Studenten waren alle begabt, doch oft zu eng auf ihre Lernziele fokussiert.

Sie lehnten jede Beschäftigung mit Dingen ab, die nicht unmittelbar mit Diagnosen oder der Patientenbetreuung zu tun hatten. Es ist leicht nachzuvollziehen, warum.

Sich mit Philosophie zu beschäftigen, hilft wenig, wenn es darum geht, eine Prostata zu entfernen; den berühmten Arzt der Antike Claudius Galenus zu lesen, erleichtert nicht, eine Lungenentzündung korrekt zu diagnostizieren. Unsere Studenten waren jedenfalls überzeugt, dass Beschäftigungen, die nicht mit ihrer Arbeit als Ärzte in Zusammenhang standen, Zeitverschwendung seien.

Ausbildung zum TUN und zum SEIN

Man kann ihre Haltung verstehen; das Medizinstudium ist lang, beschwerlich und teuer. Warum sollte man sich zu seiner Dauer und zu den Kosten noch irrelevantes Wissen eintrichtern wollen? Wenn sich jemand gern noch mit Geschichte, Literatur und Philosophie befassen wolle, könnte er oder sie es ja nach der Pensionierung tun, wenn man Zeit für solche Frivolitäten habe. Aus dem Blickwinkel von Studenten macht es Sinn, doch wertet es die Bestimmung der Universität herab.

Wir müssen natürlich die Studierenden auf ihr berufliches „Tun“ vorbereiten, doch sollten wir sie auch zum Nachdenken bringen, was sie als Menschen „sein“ wollen. Beide Ausbildungsziele, das TUN und das SEIN, kann man nicht voneinander trennen. Ich werde es gern erklären:

Empathie

Niemand wird argumentieren, dass eine tiefe Kenntnis der Philosophie einem Chirurgen bessere Fähigkeiten zur Operation z.B. einer Prostata verleiht. Doch hilft sie, sein Mitgefühl zu wecken und sein Verständnis für die Lage des Patienten zu schärfen.

Einfühlungsvermögen ist für die Arbeit als Arzt oder Ärztin unverzichtbar. Wie könnte sonst ein Arzt einer werdenden Mutter eröffnen, dass ihr Baby behindert sein wird? Wie könnte er der Mutter die möglichen Therapien mit Empathie erklären? Dazu gehört einfach mehr, als die Kenntnis genetischer Zusammenhänge. Es braucht Empathie für Leid, Enttäuschung und Mutterliebe.

Wie eröffnet ein Arzt einer Tochter, dass die Maschinen zur Lebenserhaltung ihrer Mutter abgeschaltet werden müssen? Dazu gehört mehr als die Kenntnis physiologischer Zusammenhänge. Es braucht Verständnis für den Verlust, den jemand erleidet. Wie kann sich ein Notarzt der Verzweiflung erwehren, wenn vor ihm ein Baby liegt, das von seinem eigenen Vater nahezu tot geprügelt wurde? Gegen solchen Horror kann nur ein tiefer Glaube an Menschlichkeit helfen, doch den lernt man nicht in der Anatomie.

Der Nutzen eines breit angelegtes Studiums

Nicht nur Ärzten nützt ein breit angelegtes Studium. Es ist für jeden Berufsstand von Nutzen. Ein Studium der Dramen hätte Bankern sicher nicht geholfen, die komplexen Finanzderivate zu entwickeln, die unsere Welt in eine Finanzkrise gestürzt haben. Doch hätten sie sich einmal mit Goethes „Faust“ auseinandergesetzt, so hätten sie womöglich über die Konsequenz ihrer Handlungen zweimal nachgedacht.

Ein Politiker, der in der Lage ist, aus Shelley’s Gedichten zu zitieren, wird deshalb nicht unbedingt gewählt (schon gar nicht in Australien), doch das Studium seines „Ozymandias“ könnte ihn bescheidener auftreten und seiner wahren Fähigkeiten bewusster werden lassen.

Rupert Murdoch würde jetzt nicht seinen Kopf schütteln und murmeln: „Wer hätte gedacht, dass so etwas je passieren würde?“ Er würde vielleicht über Shakespeares Worte nachdenken, wie leicht es doch ist, „von einer verleumderischen Zunge erledigt zu werden“.

Wie erlangt man Lebensklugheit?

Als ich dies sagte, sah ich im Auditorium die skeptischen Gesichter meiner akademischen Kollegen. Eine Generation von Hochschulabsolventen, vertraut mit den bedeutendsten Werken von Geschichte, Philosophie und Literatur, wäre sicher eine schöne Vision. Doch zweifeln sie, dass allein die Lektüre von Goethe, Shelley oder Shakespeare Lebensklugheit garantiert.

Natürlich haben sie Recht. Lektüre allein macht keinen klug oder gar weise. Erfahrung gehört dazu. Auch Odysseus musste auf seiner Heimreise nach Ithaca erfahren, dass einige wichtige Erkenntnisse im Leben nur auf die harte Tour zu erwerben sind. Es gibt keinen anderen Weg.

Klugheit erfordert mehr, als das Bestehen einiger Abenteuer

Jugendliche probieren Sex, Drogen, Rock and Roll und kommen meist zum Schluss, dass man nichts bis zum Exzess tun soll. Tragische Ausnahmen, wie der Tod von Amy Winehouse bestätigen hier nur die Regel. Es bleibt jedoch ein Problem.
Erfahrung alleine kann ebenso wenig Klugheit hervorrufen wie die Lektüre vieler Bücher. Die Lektionen, die das Leben bereithält, sind nur denen zugänglich, die auch bereit sind, sie zu lernen.

Um weise zu werden, muss der Student 10.000 Meilen gehen und 10.000 Bücher lesen, sagt Gu Yanwu, ein chinesischer Philosoph des 17. Jahrhunderts. Mit anderen Worten: Klugheit erfordert mehr, als das Bestehen einiger Abenteuer; es braucht einen gebildeten Verstand, der offen, bereit und fähig ist, die Lektionen, die das Leben lehrt, zu verinnerlichen.

Als Akademiker sollten wir Pasteurs berühmtes Wort beherzigen: „Einsicht bevorzugt den vorbereiteten Geist“. Um Studenten vorzubereiten, aus Erfahrung zu lernen, müssen wir über die Vermittlung beruflicher Fähigkeiten hinausgehen.

Was zählt wirklich im Leben?

Leben, Tod, Tragödie, Liebe, Schönheit, Mut, Loyalität – sind nicht Bestandteil unserer modernen, berufsspezifischen Lehrpläne, und doch, wenn die Zeit kommt, unser Leben zu rekapitulieren, sind sie die einzigen Elemente, die wirklich zählen.

Am Aschermittwoch ermahnt der Priester die Gläubigen: „Bedenke, dass du Staub bist und wieder zu Staub wirst.“ – eine heilsame Erinnerung an das, was uns erwartet.

In der Zwischenzeit verbringen wir unsere Zeit – wie der Prophet im Buch Jesus Sirach – damit, einen Sinn in unserem Leben zu finden. Es ist leicht, in die Falle des Nihilismus zu tappen, und das Leben als „Fabel, die ein Idiot erzählt, angefüllt mit Schwulst und Raserei, bedeutungslos“, anzusehen.

Doch bevor wir unseren Studenten Macbeths Schlussfolgerungen nahe bringen, sollten wir zum mindesten versuchen, ihnen die intellektuellen Voraussetzungen zu vermitteln, die sie brauchen, um ein solches Urteil zu fällen. Erfreulicherweise ist es genau das, was unsere Studenten letztlich von uns erwarten.

Der Vize-Präsident einer amerikanischen Universität befragte vor kurzem seine Studenten: „Warum sind Sie hierhin gekommen?“ Die Antworten waren etwa: „Ich will einen guten Job bekommen“, oder „Ich brauche einen Abschluss, um in meinem Job befördert zu werden“. Die Antworten erstaunten nicht, sie kamen, wie von ihm erwartet. Als er jedoch die Frage in einem weiteren Kontext so formulierte: „Was für ein Leben möchten Sie in fünf oder zehn Jahren führen?“ erhielt er andere Antworten. Die Studenten sprachen über Pläne, Sinn, Identität, Integrität und Beziehungswünsche.

Bücher helfen mit zu einem gelingenden Leben

Es gibt also ein Bedürfnis für Einsicht und Lebensklugheit, das eine nur auf Berufsfähigkeiten reduzierte Ausbildung nicht vermitteln kann.

Vor einiger Zeit habe ich einen Beitrag in einer Wochenzeitschrift veröffentlicht, in dem ich vorschlug, eine Liste großer literarischer Werke aufzustellen, die jeder Student einmal gelesen haben sollte. Mein Vorschlag fand lebendige Resonanz in Presse und Internet.
Viele Kommentatoren stimmten prinzipiell einer solchen Liste zu, doch, wie zu erwarten, hatte jeder unterschiedliche Vorschläge im Sinn. Für mich ist wichtig, dass die Menschen sich wirklich engagiert zeigten und ihrer Überzeugung Ausdruck gaben, dass Bücher Klugheit vermitteln können. Davon bin auch ich überzeugt.

Welchen Beruf auch immer die Studenten anstreben, sie werden nicht nur im Beruf, sondern auch im Privatleben davon profitieren, sich mit den berühmtesten Werken der Belletristik, der Geschichte, mit Biographien, Philosophie und Wissenschaft beschäftigt zu haben.

Aus diesen Quellen werden sie erfahren, was Liebe und Verlust, Gedächtnis und Wünsche, Loyalität und Pflichterfüllung, unsere Welt und unser Universum bedeuten und was es bedeutet, Mensch zu sein.