Zu den schönsten und tiefsinnigsten Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm gehört das vom „Hans im Glück“[1]: Der junge Hans erhält als Lohn für sieben Jahre Arbeit einen Goldklumpen, so groß wie sein Kopf. Mit diesem enormen Schatz macht er sich auf die Reise heim zu seiner Mutter. Die Last des gewaltigen Goldstückes drückt ihn dabei arg, und bei erster Gelegenheit tauscht er ihn gegen ein Pferd ein. Aber auch damit kommt er nicht zurecht, und nach und nach lässt er sich auf seiner Reise immer weniger Wertvolles aufschwätzen: eine Kuh, ein Schwein, eine Gans, schließlich einen defekten Schleifstein. Alles wird ihm schnell zur Last, und richtig glücklich ist er erst, als ihm auch der Stein noch in einen Brunnen fällt. So steht er am Ende ganz ohne alles da. Wenn ich an dieses Märchen denke – und an seine verborgene Botschaft – dann fällt mir unwillkürlich ein, wie es um den christlichen Glauben in Deutschland und Europa steht… Wo da die Verbindung ist? Schauen wir uns die Geschichte einmal genauer an!

Der Hans im Märchen empfindet das Tragen des Goldklumpens auf seiner Schulter als Belastung. Er denkt gar nicht an den Wert, sondern fühlt nur das Gewicht. Und als er einen Reiter auf einem leichtfüßigen Pferd herannahen sieht, wünscht er sich nichts sehnlicher, als auch so elegant und locker vorankommen zu können. Schnell ist der Tausch gemacht, und Hans reitet beglückt davon, froh darüber, nicht mehr das Gold schleppen zu müssen – und ohne daran zu denken, wie viele Pferde es wohl wert wäre. Als das Pferd ihn abwirft und er sich dabei ordentlich weh tut, weicht die Begeisterung für das Reiten schnell schweren Bedenken. Und bald schon ist er bereit, sich auf ein neues scheinbares Glück einzulassen. Er tauscht Pferd gegen Kuh und fühlt sich gleich wieder auf der Siegerstraße. Denn wie wunderbar nachhaltig und wertvoll ist doch so ein Milchvieh! Als es aber darauf ankommt, erweist sich die Kuh als ebenso prekär und unbefriedigend wie das Pferd. Und so geht es mit dem Tauschen weiter; der leicht zu begeisternde, wenn auch nicht sehr clevere Hans lässt sich immer wieder etwas andrehen, bis er ganz zum Schluss mit leeren Händen dasteht.

Eine naheliegende Assoziation

Es bedarf keiner großen Phantasie, um die Parallele zu dem zu erkennen, was hierzulande und in etlichen anderen Ländern als „Entchristlichung“ zu beobachten ist – und nicht erst in jüngerer Zeit. Das unermesslich große Geschenk des christlichen Glaubens – wofür noch nicht einmal eine Arbeitsleistung zu erbringen war – wurde allzu schnell und allzu oft als irgendwie belastend empfunden. Und wieder und wieder haben sich die Menschen dann umorientiert und von vordergründigen Vorteilen anderer Wege blenden lassen; mal beeindruckt von wirklich Nützlichem, nur ohne rechte Urteilskraft; mal getäuscht von Scharlatanen und Falschpropheten.

Bleiben wir bei der Bildsprache des Märchens und legen sie einmal allegorisch aus:

Das Pferd, für das Hans sein Gold eintauscht, kann für die Wissenschaft stehen. Eine zweifellos edle und schöne Kunst, die der Menschheit viel Fortschritt und Lebensqualität verschafft hat. Sie zu nutzen bringt uns voran, macht Freude und erhebt unser Selbstwertgefühl. Aber sie birgt auch Risiken, und wenn wir sie – aus mangelndem Verständnis ihres Wesens und ihrer Möglichkeiten und Reichweite – zum Religionsersatz (oder zur Ersatzreligion) erheben[2], dann endet das so schlecht wie der kurze Ausritt des Hans im Glück. Die falsche Dichotomie von Glauben und Wissen, der vermeintliche Widerspruch zwischen Vernunft und Glaube ist eine der Triebkräfte der radikalen Säkularisierung. Viele, besonders junge Menschen „glauben“ nur noch an das, was sie für Wissenschaft halten. Dabei fehlt ihnen das Verständnis dafür, was Wissenschaft eigentlich kann – und das Wissen darum, dass sie sich im Schoß der Kirche zuerst entwickelt hat[3].

Die Kuh, die Hans im Glück in seinem zweiten unglückseligen Tauschgeschäft erwirbt, kann für eine andere Triebkraft der Säkularisierung stehen: Die ausschließliche Fixierung auf das soziale Handeln, die „Orthopraxie“ – eine Haltung, die Glaubenssätze und Wahrheiten für irrelevant erklärt, weil es nur auf das Tun ankomme. Dahinter steht natürlich etwas für den christlichen Glauben Wesenhaftes, Unentbehrliches, die christliche Nächstenliebe. Nirgends ist sie schöner beschrieben, als im „hohen Lied der Liebe“[4]. Es wäre den Aposteln aber sicher nie in den Sinn gekommen, dass das Liebeshandeln des Christen jemals von seinem Ursprung, dem Glauben an Christus, abgelöst oder gar gegen ihn verwendet werden könnte.

Aber zurück zur Allegorie: Nachdem – nicht überraschend – auch die Kuh nicht das Glück des jungen Hans garantieren konnte, lässt er sich immer schneller und immer irrationaler auf immer schlechtere Tauschgeschäfte ein. Hans schraubt seine Ansprüche unbewusst immer weiter herunter. Von Pferd und Kuh kann man noch längere Zeit profitieren; das Schwein und die Gans werden dagegen nur noch bezüglich ihrer Schlachtung und Verwertung betrachtet. Schlachtplatten sind aber schnell verzehrt. So geht es bei diversen Sekten und falschen Propheten: Sie stillen kurzfristig und vordergründig spirituelle Bedürfnisse, haben aber weder Tiefe noch Dauer.

Die letzte Stufe wird dann mit dem kaputten Schleifstein erreicht, dessen schlitzohriger Verkäufer sich in dem Märchen als erster ganz ungeniert der Lüge und Täuschung bedient. Hierin könnte man die Allegorie antichristlicher Ideologien (wie Nationalsozialismus, Kommunismus etc.) sehen.

Und die Moral von der Geschicht’ …

Die Brüder Grimm hätten vermutlich keine Einwände gegen diese allegorische Ausdeutung ihres Märchens geltend gemacht. Denn im Märchen spiegelt sich fast immer etwas Allgemeinmenschliches. Und so dürfen wir getrost auch „die Moral von der Geschicht’“ hinzufügen:

Da haben wir einen unermesslichen Schatz erhalten, sogar ohne dafür dienen zu müssen: den christlichen Glauben. Nicht irgendein Gedankengebäude, keine Weltanschauung oder Philosophie, sondern eine echte Beziehung zum lebendigen Gott, wie es sie in keiner anderen Religion gibt. Apostel und zahllose Märtyrer haben ihn verbreitet, unzählige einfache Gläubige ihn gelebt und weitergegeben. Und was hat der christliche Glaube nicht alles mit sich gebracht: Liebe und Menschlichkeit, Wissen und Erkenntnis, Fortschritt und Freiheit[5]. Gewaltige Werke der Literatur, Kunst und Musik zeugen davon, wie auch die großartigen Kirchen und Kathedralen überall in unseren Städten. Und dabei ist das nur die Außenseite, kaum mehr als eine Dreingabe; denn was der christliche Glaube dem Menschen Gutes tut, das übersteigt alle materiellen Errungenschaften bei weitem, und das ist natürlich das Eigentliche. Und trotzdem – irgendwie geht es uns wie dem Hans im Glück; wir wuchern nicht mit diesem Pfund[6], wir geben es leichtfertig weg. Höchste Zeit zur Umkehr – bevor wir mit leeren Händen dastehen!


[1]Vgl. z.B.: https://www.grimmstories.com/de/grimm_maerchen/hans_im_glueck

[2]Das Absolutsetzen naturwissenschaftlicher Verfahren als einzige Quelle der Erkenntnis, auch in Bereichen, für die diese Verfahren ungeeignet sind. Man kann das auch als „Szientismus“ bezeichnen.

[3]Vgl. den Beitrag „Kirche und Wissenschaft“: https://erziehungstrends.info/kirche-und-wissenschaft

[4]1 Kor 13, 1-3

[5]Vgl. den Beitrag „Die Kirche und Menschenrechte“: https://erziehungstrends.info/die-kirche-und-die-menschenrechte

[6]Im Sinne des Gleichnisses; vgl. Mt. 25, 14 ff. und Lk 19, 12 ff.