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In den durchschnittlich mittelmäßigen Science-fiction-Romanen, die uns die Popkultur täglich beschert, wird des öfteren eine ganz von Technikern beherrschte Welt beschrieben, in der eine gelähmte und erblindete Menschheit nach einer Weltkatastrophe sklavenartig weiterlebt. Alles auf dieser Welt ist genau geplant, sogar die Liebe. Plötzlich aber taucht der Held auf – der Superman -, der das System umstürzen will. Er kämpft, wird verfolgt, begeht allerlei gefährliche Abenteuer und triumphiert am Ende. Damit beginnt für die Menschen eine neue Ära persönlicher Freiheit.
Die von der fortschrittsbewussten Wissenschaft zugleich berauschte und enttäuschte menschliche Phantasie offenbart hier die „Angst des 20. Jahrhunderts“ und drückt auf diese Weise die Sehnsucht des heutigen Menschen nach der Befestigung seiner Freiheit aus. Nicht, dass diese Romane als Lehr- oder Thesenromane bezeichnet werden dürften; sie sind nicht mit moralistischen Absichten geschrieben. Aber die Phantasie weiß mehr als sie meint: Sie offenbart die Tiefe des menschlichen Daseins unter dem Druck einer mechanisierten Kultur.
Phantasie hat keinen guten Ruf
Trotzdem erfreut sich die Phantasie keines guten Rufes. Die „ernsten Menschen“ überlassen sie den Narren, den Dichtern, den Mystikern: Sie – die Intellektuellen, die Moralisten, die Tugendbolde, die Geschäftsleute – brauchen nur die Vernunft, sie sind „sachlich“, weil sie äußerst praktische Zwecke verfolgen. Kein Mensch hat die Vernunft in Verdacht, die Phantasie aber wird von vielen klugen Menschen schief angesehen.
Sie wird von allen Seiten angegriffen: Sture Pragmatiker und raffinierte Spiritualisten verlachen sie gemeinsam; Händler und Novizen der Askese verachten sie einmütig; Sinnliche und Rationalisten entwürdigen sie pausenlos. Plato wirft die Dichter aus seiner Republik hinaus.
Welt der Zeichen und Symbole
Warum eine solche nahezu einstimmige Verachtung einer ausschließlich menschlichen Eigenschaft? Mathematiker und Physiker können ohne sie nicht auskommen, ihre Rechenoperationen, die unsere Welt prägen, sind eine Stickerei der Vernunft auf dem magischen Stoff einer waghalsigen und schöpferischen Phantasie, deren unerschöpfliche Hypothesen die Forschung weitertreiben. Ohne das Abenteuer der unersetzlichen Phantasie, die immer nach neuen Wegen, neuen Bequemlichkeiten, neuen Erfindungen und Errungenschaften strebt, wäre ein technischer Fortschritt undenkbar.
Die „närrische“ Phantasie eines Kolumbus hat die Entdeckung Amerikas ermöglicht. „Die Einbildungskraft hat mehr Entdeckungen gemacht als das Auge“ (Joubert). Aber auch Industriemanager, Straßenhändler oder Wirtschaftsbosse würden ohne Phantasie nichts erreichen. Die Leute, die ehrgeizig nach dem Geld streben, sind meist besonders phantasiereich: Die kleinen neapolitanischen Rotzbuben, die englischen Bankiers, die amerikanischen Gangster, die deutschen Industriellen, die Schlager- und Filmproduzenten…
Wir leben in einer Phantasiewelt voller Symbole und Zeichen, die sich in die trivialsten Bereiche unseres Alltagslebens einschleichen. Von Firmenbezeichnungen bis zu Verkehrsschildern, von der Stenographie bis zur „Sportliturgie“, vom Slogan bis zum Inserat: „Wir lassen uns vom Geiste der Küche beraten“, „tun den Tiger in den Tank“, „kaufen im Falle eines Falles Klebstoff“, und wenn wir gegen die bestehende Gesellschaftsordnung protestieren wollen, lassen wir uns die Haare besonders lang wachsen und ziehen Beatmode an.
Phantasie – „die Närrin des Hauses“
Weil die Kommunikationsmittel so rasch und so umfassend unsere Symbole verbreiten, werden sie bald abgedroschen, und man muss andere Symbole erfinden. Dies durch eine Arbeit unserer Phantasie, welche die Produktion, die Kommunikationsmittel und den Konsum gleichmäßig und ganz beherrscht.
Die göttliche Offenbarung fand in der menschlichen Phantasie ihr treuestes Ausdrucksmittel: Symbole, Erzählungen, Gedichte und Allegorien füllen die inhaltsreichsten Bücher der Heiligen Schrift. Parabeln, Gleichnisse, phantasievolle Geschichten bilden sogar im Munde des menschgewordenen Gotteswortes das Brot der neuen Botschaft. Zu allen Zeiten benützen die Heiligen die Phantasie nicht nur bei ihrer Lehrtätigkeit, sondern auch in ihrem inneren Leben, in den Berichten über ihre Gotteserfahrungen, wie bei ihren höchst realistischen Taten der Liebe.
Wir wiederholen immer wieder, dass Theresia von Avila die Phantasie „die Närrin des Hauses“ genannt hat, vergessen aber dabei, dass ihre weltberühmten, erhabenen und gleichzeitig so menschlichen Schriften immer eine außerordentliche Einbildungskraft beweisen: Ihre „Seelenburg“ wird von zahlreichen Phantasien bewohnt.
Bei Ignatius von Loyola, dessen militärische Willenskraft und Sachlichkeit sprichwörtlich ist, finden sich eine feurige Mystik und eine systematische, fast spitzfindige Anwendung der Phantasie in allen Einführungen zu den Betrachtungen des bekannten Exerzitienbuches.
Phantasie – Flucht vor der Wirklichkeit?
Ist der Mensch – nach dem berühmten Wort von Paul Valéry – vielleicht nichts anderes als „organisierte Phantasie“? Ist unsere Existenz nichts weiter als ein Traum, ein Gottestraum, der sich nicht in die simplen Kästen unseres Verstandes einbauen lässt? Warum entledigen wir uns nicht unserer Vorurteile gegenüber der Einbildungskraft?
Durch die Phantasie tritt das Kind in die Welt hinein. Das fast ununterbrochene Spielen des Kindes, das große Spiel – Jocus Mayor – ist im Gegensatz zum Spiel der Erwachsenen schöpferisch und spiegelt die menschliche Freiheit des erstaunten und erstaunlichen Chaos des ersten Tages der Schöpfung wider.
Es ist die ernstvolle Einführung in das Wissen des Menschen, so wie die Magier die Vorfahren der Wissenschaft gewesen sind (Magier bedeutet: weiser Mann mit Kraft zum Wirken, so Giordano Bruno).
Phantasie – der Wirklichkeit entfliehen?
Später aber, wenn das Kind das Werkzeug der Vernunft besitzt, kann es sich selbst als einen Feind der Einbildungskraft betrachten, und sich – darin besteht eine Gefahr – ins Reich der Phantasie zurückziehen, um damit der durch den Verstand erfassten neuen Wirklichkeit zu entfliehen.
Die Angst verwandelt die Phantasie in eine Flucht nach dem Raum der unbegrenzten Freiheit: Die hysterische Welt, in der der Mensch sich „unverwirklicht“ (Sartre), in der die existentielle Lüge die einzige Lebensmöglichkeit darstellt, ja, den einzigen Weltbezug.
Die Lüge der Kinder aus Angst, die Lüge der Frauen aus ästhetischen Gründen, aus Schwarm oder Schwermut, die Lüge der Männer aus Eitelkeit, aus Minderwertigkeitsgefühlen oder aus Gewinnstreben, der Wahn der Geistesgestörten; bedeuten sie tatsächlich eine Flucht aus der Wirklichkeit? Moderne Untersuchungen beweisen, dass diese manchmal so komplizierten Leistungen der Phantasie in Wahrheit den beinahe verzweifelten Versuch darstellen, Kontakt mit der Umwelt zu erreichen.
Was bleibet aber, stiften die Dichter
Die Phantasie ist keinesfalls eine weltferne, sondern eine weltnahe und nährende Art und Weise des menschlichen Lebens. Der Rausch einer gegenständlichen Kultur, der das Leben durch rein logisch-technische Mittel objektiv erfassen und beherrschen möchte, hat die Phantasie verachtet und als eine Verwirrung angesehen; dabei ist es aber gerade die Phantasie, die – auf bloß menschlicher Ebene – den nach Sinn, Freiheit und Glück sich sehnenden Zeitgenossen den Heilsweg eröffnet.
Es waren die Dichter, die sich gegen die technisch durchorganisierte Gesellschaft des Ostblocks erhoben, es sind die Phantasten, die gegen die mechanisierten und durchgeplanten Weltkulturen rebellieren.
Und wenn mitten in unserer rationalistischen Welt beängstigend die Sinnlosigkeit, das Nichts auftaucht, dann sind es die Zwiesprache unter Menschen, die Geborgenheit des Dialogs, der Kontakt, der sich im Wort ausdrückt, dann sind sie es, die die Gottesoffenbarung ermöglichen und damit die Begreiflichkeit des Lebenssinnes eröffnen (Martin Heidegger).
Es sind die letzten heilenden Worte, „was bleibet aber, stiften die Dichter“ (Hölderlin). Die Phantasie ist jenes Etwas vom Dichter und vom Narren und vom Kinde, das wir alle in uns haben, ja von jenen Dichtern, Narren und Kindern, die die Wahrheit sagen, die Herzenswahrheit, die die Vernunft nicht kennt (Pascal).
Die Erfahrung der Tiefenwirklichkeit, die allein die Poesie vermitteln kann, „diese Lüge der Träume, realer als die Realität selbst“ (J.R. Jiménez), die Dichter und Mystiker kennen und aus der sie so betrunken und zugleich so sehr als Herren zurückkommen, dass sie nur mehr schweigen oder ein „ich weiß es nicht“ stammeln können; diese Erfahrung versuchen sie ihr ganzes Leben lang zu verarbeiten und auszudrücken, denn in ihr ruht das Wesen der geschöpflichen Existenz, der kosmischen Einheit der ganzen Schöpfung, und dieser mit Gott. Unsere vergötterte, technisierte Kultur verkennt sie und neurotisiert sie daher unvermeidlich.
Was wir verlernt haben
Die Weisen der Antike meinten, sie wären von den Musen geküsst worden; andere, dass ihnen die Götter eine göttliche Torheit geschenkt hätten; nach anderen besitzen die Dichter die höchste Form des Erkennens, einen sensiblen Blick, der „den Glanz der Wahrheit“ (Plato), „den Glanz der Ordnung“ (Augustinus), „den Glanz der Form“ (Thomas von Aquin) wahrnimmt.
Jene Intuition, jene Beschaulichkeit, die so glückselig macht, gerade weil sie aus der absoluten Ruhe jeder Anstrengung der Vernunft entspringt, haben wir beinahe völlig verlernt.
Die Vernunft leidet unter der Verdemütigung, alles rechtfertigen zu müssen (Pascal), und die Tragik unserer Welt besteht gerade darin, dass in ihr fast alles erklärbar, fast alles beweisbar, fast alles messbar ist … Fast alles: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ Deshalb die Empörung Rainer Maria Rilkes über die Menschen, die die Realität zu manipulieren versuchen: sie sprechen über alles mit einer solchen Klarheit.
Das heißt „Hund“ und jenes „Haus“ – hier beginnt und endet alles. Aber ich werde ihnen immer sagen: haltet Abstand … Es gefällt mir so gut, die Dinge singen zu hören. Ihr berührt sie, und siehe: sie sind starr und stumm geworden. Ihr habt die Fähigkeit, alles zu verderben.
„Berühre sie nicht mehr, denn so ist die Rose“ (J. R. Jiménez).
Diese Inspiration, diese Art der Erkenntnis, die Mit-Entstehen mit den Dingen ist („connaissance = conaissance“, Paul Claudel), bedeutet nicht Faulheit. Sie wird nur jenen zuteil, die etwas taugen: Man muss viel schauen, um sehen zu können. „Der erste Vers wurde dir von den Göttern geschenkt. Jetzt musst du eifrig arbeiten, damit die anderen dem göttlichen Erstgeborenen entsprechen.“ (P. Valéry)
Phantastisch! wiederholt die Jugend unserer Zeit oftmals vor jemand oder etwas, das sie begeistert. Hierbei handelt es sich nicht um einen Angriff auf das Ungewöhnliche, sondern es offenbart sich jene Sehnsucht nach einer unter den metallenen Netzen der Vernunft und der Technik verlorenen Realität, die die Phantasie plötzlich wieder entdeckt hat.