In unserer Umwelt begegnen wir, wenn wir die Augen aufmachen, täglich vielen Hinweisen auf den christlichen Glauben, sei es in Kunst und Architektur, Sprache und Literatur, oder auch in Redewendungen und Sprichwörtern (1); überall gibt es Kirchen und Kathedralen, Gemälde, Dichtungen und natürlich die Musik (2). Das häufigste und unverwechselbarste christliche Zeichen ist und bleibt dabei das Kreuz (3). Aber auch gläubige Christen haben sich vielleicht schon ein wenig zu sehr daran gewöhnt und machen sich nicht immer die Tiefe dieses Zeichens hinreichend klar.

Dabei müsste es jeden unbefangenen Betrachter eigentlich zunächst aufschrecken: Wer wird denn ein furchtbares Hinrichtungsinstrument, gar mit der Abbildung des Getöteten daran, zum Hoffnungszeichen erklären und deshalb über Jahrtausende hinweg zu seinem Erkennungs- und Identifikationszeichen machen? Und tatsächlich ist es ja ein Zeichen des Trostes und der Hoffnung. Was steckt aber eigentlich dahinter? Um das richtig zu verstehen, lohnt es sich, einmal auf einen besonderen Weg zu gehen…

In fast jeder katholischen Kirche findet man – meist umlaufend an den Wänden des Hauptschiffes – vierzehn „Kreuzwegstationen“, jeweils mit Bildern, die den Weg Jesu Christi von seiner Verurteilung bis zur Hinrichtungsstätte Golgotha in einzelnen Episoden darstellen. Zuweilen werden diese Bilder als bloße Ausschmückung des Kirchenraumes missverstanden. In Wahrheit zeugen sie von einer wunderbaren meditativen christlichen Tradition, die vor allem in der Fastenzeit vor Ostern überaus lebendig ist.

Den Kreuzweg in Gedanken und Gebeten nachzugehen, gemeinsam mit anderen in einer Kirche, vielleicht aber auch zuhause und allein, mit Hilfe eines Meditationsbüchleins (4), das kann mehr zum Verständnis des christlichen Glaubens beitragen, als Stunden der Lektüre oder Vorlesung. Darüber hinaus eignet dem Kreuzweg, wenn wir ihn innerlich mitgehen, etwas, das sonst nur den größten Werken der Literatur oder Musik bzw. bestimmten Meditationen (5) zukommt – eine kathartische, eine reinigende Wirkung auf uns selbst.

Klar – das muss man selbst erfahren, es lässt sich nicht simulieren oder programmieren. Aber es lohnt sich doch, zu einigen der verschiedenen Stationen dieses geheimnisvollen Weges hinzugehen, eines Weges, der nicht nur in die Tiefen der „Conditio humana“ (6) führt, sondern auch in die Weite der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen.

Zu Beginn kann es helfen, an den einzelnen Stationen (7) dieses Weges jeweils nur ein, zwei Aspekte aus der Vielzahl der enthaltenen Botschaften herauszugreifen. Sobald wir anfangen, ein Gefühl für die Entdeckungen zu entwickeln, die wir auf diesem Weg machen können, fällt es uns leichter, unsere Scheu und Befangenheit zu überwinden, und wir können das Geheimnis des Kreuzweges selbst erleben.

Im Folgenden soll es darum gehen, eine solche Entdeckungsreise auf der „Via Crucis“ zu machen; die jeweils notierten Gedanken sind nur Beispiele, Hinführungen zum eigenen Erleben, gewiss keine abgeschlossene Deutungen.

Wird fortgesetzt mit Beiträgen zu den einzelnen Kreuzwegstationen


Anmerkungen

1) Redewendungen wie „Es ist schon ein Kreuz mit…“, oder die Rede von „Stigmatisierung“ (Bezeichnung mit den Wundmalen Christi) zeigen, dass unsere Kultur nicht nur auf dem Boden des Christentums gewachsen ist, sondern in jeder Hinsicht tief vom ihm durchdrungen.

2) So ist z.B. die Musik eines Johann Sebastian Bach ohne Kenntnis des christlichen Glaubens und der Passion Christi gar nicht zu verstehen – und das gilt nicht nur für Texte, wie z.B. „Ein Haupt voll Blut und Wunden“, sondern für Sinn und Struktur seiner gesamten Musik!

3) Zur Kreuzestheologie vgl.: Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Zweiter Teil. Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Freiburg/Basel/Wien 2010. Kap.8.

4) Besonders empfehlenswert sind die Kreuzwegmeditationen von Josemaría Escrivá; sein Büchlein „Der Kreuzweg“ (auf Deutsch erschienen im Adamas Verlag) ist ein echter Klassiker und führt in die ganze Tiefe des Kreuzwegs, in die Geheimnisse um das Kreuz Christi.

5) Vgl. a. die drei Beiträge „Meditation, Old School“.

6) Die Befindlichkeit des Menschen als sterbliches und fehlbares Wesen.

7) Es gibt verschiedene Fassungen des Kreuzweges, unterschiedlich lang und mit teilweise unterschiedlichen „Stationen“. So weichen z.B. die zum Karfreitag 2008 von Kardinal Zen Ze-Kiun (Bischof von Hongkong) ausgewählten Stationen von den im deutschen Sprachraum üblichen ab. Er hat sie zu einer sehr schönend Meditation zusammengestellt, und zwar für den von Papst Benedikt XVI. in Rom angeführten Kreuzweg (Kreuzweg am Kolosseum. Hrsgg. vom Büro für liturgische Feiern mit dem Hl. Vater. Freiburg/Basel/Wien 2008). Sie setzen vor dem Prozess Jesu an und folgen streng nur den im Neuen Testament explizit beschriebenen Szenen. Ich habe hier Elemente aus beiden Fassungen – der traditionellen und der des Kardinals Zen – herangezogen.


1.
O Haupt voll Blut und Wunden,
voll Schmerz und voller Hohn,
o Haupt, zum Spott gebunden
mit einer Dornenkron,
o Haupt, sonst schön gezieret
mit höchster Ehr und Zier,
jetzt aber hoch schimpfieret:
gegrüßet seist du mir!

2.
Du edles Angesichte,
davor sonst schrickt und scheut
das große Weltgewichte:
wie bist du so bespeit,
wie bist du so erbleichet!
Wer hat dein Augenlicht,
dem sonst kein Licht nicht gleichet,
so schändlich zugericht’?

3.
Die Farbe deiner Wangen,
der roten Lippen Pracht
ist hin und ganz vergangen;
des blassen Todes Macht
hat alles hingenommen,
hat alles hingerafft,
und daher bist du kommen
von deines Leibes Kraft.

4.
Nun, was du, Herr, erduldet,
ist alles meine Last;
ich hab es selbst verschuldet,
was du getragen hast.
Schau her, hier steh ich Armer,
der Zorn verdienet hat.
Gib mir, o mein Erbarmer,
den Anblick deiner Gnad.

5.
Erkenne mich, mein Hüter,
mein Hirte, nimm mich an.
Von dir, Quell aller Güter,
ist mir viel Guts getan;
dein Mund hat mich gelabet
mit Milch und süßer Kost,
dein Geist hat mich begabet
mit mancher Himmelslust.

6.
Ich will hier bei dir stehen,
verachte mich doch nicht;
von dir will ich nicht gehen,
wenn dir dein Herze bricht;
wenn dein Haupt wird erblassen
im letzten Todesstoß,
alsdann will ich dich fassen
in meinen Arm und Schoß.

7.
Es dient zu meinen Freuden
und tut mir herzlich wohl,
wenn ich in deinem Leiden,
mein Heil, mich finden soll.
Ach möcht ich, o mein Leben,
an deinem Kreuze hier
mein Leben von mir geben,
wie wohl geschähe mir!

8.
Ich danke dir von Herzen,
o Jesu, liebster Freund,
für deines Todes Schmerzen,
da du’s so gut gemeint.
Ach gib, dass ich mich halte
zu dir und deiner Treu
und, wenn ich nun[10] erkalte,
in dir mein Ende sei.

9.
Wenn ich einmal soll scheiden,
so scheide nicht von mir,
wenn ich den Tod soll leiden,
so tritt du dann herfür;
wenn mir am allerbängsten
wird um das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten
kraft deiner Angst und Pein.

10.
Erscheine mir zum Schilde,
zum Trost in meinem Tod,
und lass mich sehn dein Bilde
in deiner Kreuzesnot.
Da will ich nach dir blicken,
da will ich glaubensvoll
dich fest an mein Herz drücken.
Wer so stirbt, der stirbt wohl.