(Bild: Ausschnitt eines Freskos aus der Unterkirche der Basilika San Francesco in Assisi  – Pietro lorenzetti (1320))

Zum Ende der Fastenzeit kommen zwei außergewöhnliche Prozessionen in den Blick; in beiden steht Jesus von Nazareth im Mittelpunkt – aber auf eine so extrem gegensätzliche Weise, dass man sich auch nach zwei Jahrtausenden noch fragt, wie es dazu kommen konnte. Beide Wege sind historisch bezeugt, und beide haben für unser Leben eine so elementare Bedeutung, dass wir sie jedes Jahr wieder nachgehen – am Palmsonntag und am Karfreitag. Aber wie hängen sie zusammen?

Triumphzug

Der bejubelte Einzug Jesu in Jerusalem war keine inszenierte Propagandaschau. Der Ruhm des Heilers und Predigers hatte sich weithin verbreitet, so dass es zu spontanen Ausbrüchen ehrlicher Begeisterung kam. Wie so viele fromme Juden reiste er aus Anlass der Pessach/Passah-Festtage[1] zum Tempel, und schon auf dem Weg schlossen sich ihm immer mehr begeisterte Anhänger an. Die Erwartungen waren hoch, nachdem sich Berichte über seine Wunder und seine ebenso wunderbare Verkündigung im ganzen Land Israel verbreitet hatten. Die Begeisterungsrufe („Hosanna“ oder „Hosianna“) waren zugleich Lobpreis und Bitte, wie einem Herrscher gegenüber, dem man Ehre erweist und von dem man sich abhängig weiß. Die verwendeten Ehrentitel stellten die Verbindung zum vergangenen Glanz des davidischen Königtums her. Dass die Leute Palmzweige und sogar ihre Kleider auf der Straße vor dem einziehenden Herrn ausbreiten, hat für heutige Betrachter beinahe etwas Unterwürfiges und erinnert an den Triumphzug eines Großkönigs. In so einer Position hatten wir Jesus zuvor noch nie erlebt.

Wo führt das hin?

Die ganze Szene zeigt, dass die Erwartungen an ihn über mitreißende Predigten und Wunderheilungen hinausgingen. Viele in der Menge mögen ihre Hoffnungen auf einen weltlichen Herrscher mit Superkräften gerichtet haben, auf einen, der sie vom Joch der römischen Fremdherrschaft befreien sollte. Dass der bejubelte König auf einem Esel in seine prospektive Hauptstadt einritt, könnte uns leicht als ein gewisser Stilbruch erscheinen, zumal wenn man bedenkt, wie römische Statthalter – von Kaisern ganz zu schweigen – normalerweise hoch zu Ross daherkamen. Aber der Esel hatte im alten Israel überhaupt keine negative Konnotation, im Gegenteil. Das Reiten auf dem jungen Esel war zwar ein Zeichen der Demut, aber ein prophetisches, eines mit sehr starken Bezügen zur Geschichte Israels, es war eine „zeichenhafte“ Handlung, und die Leute verstanden das auch so. Auf jeden Fall geht es um mehr als die Fortsetzung der Arbeit eines Wanderpredigers und Wunderheilers.

Sehr schnell wird aber klar, dass es auch nicht um weltliche Macht geht, die Restituierung des davidischen Königtums etwa, oder ein Abschütteln der Fremdherrschaft. Jedem rein irdischen Machtanspruch hätten die Römer ohnehin schnell den Garaus machen können. Aber sie waren offenbar gar nicht beunruhigt. Erst beim Verhör im Prätorium bringt der Statthalter Pilatus überhaupt zum ersten Mal die Frage nach der Königsherrschaft auf[2]. Ihn beunruhigt ausschließlich, was die öffentliche Ordnung stören könnte, oder seine Ruhe und seine Karriere. Da ist er uns ganz nahe…

Point of no return

Das Auftreten Jesu in den Tagen nach dem triumphalen Einzug in Jerusalem verrät, dass sich die Sache irgendwie zuspitzt. Er ist nicht zum Tempel gekommen, um einfach noch einmal ein großes Publikum am Festtag zu erreichen. Etwas ist anders. Der Konflikt um den Galiläer erreicht den kritischen Punkt. Es ist mit Händen zu greifen, dass er nicht einfach ein Prophet ist, sondern dass in ihm etwas in die Welt eingetreten ist, das weit über alles Prophetentum hinaus reicht. Manch einem mag im Nachhinein einiges klar geworden sein – woher dieser Mann aus bescheidenen Verhältnissen wohl seine Kraft und seine Weisheit bekommen haben mag. Auch ohne dass dieses Wort fällt, wird jetzt spürbar, dass hier wahrhaft göttliche Vollmacht wirkt. Und das zwingt zur Entscheidung. Stellen wir uns das in unserer Welt vor: Hätten wir den Anspruch des Gottessohnes erkannt? Auf welcher Seite hätten wir gestanden?

Mitgehen in der Menge

Aus der Ferne betrachtet – und mit großem zeitlichen Abstand – erkennen wir, womit wir es zu tun haben. Aber aus der Nähe, in unmittelbarem Kontakt? Wenn wir uns einfühlen in die Situation und dabei ganz ehrlich sind? Vielleicht kommt uns dann der Verdacht, dass wir nicht nur beim Festumzug mitgejubelt hätten, sondern womöglich auch in der gegen den Messias tobenden Menge mitgeschrieen. Musste es nicht empörend wirken, dass dieser Mann mit der Autorität Gottes sprach? Wer kann das ertragen? Wenn wir in Gedanken den Weg mitgehen – vom Einzug in die große Stadt, über die „Tempelreinigung“ und die große eschatologische[3]  Rede Jesu, bis hin zum letzten Abendmahl, dann erkennen wir, worauf das alles hinausläuft: auf jenen anderen Weg, den Weg, der Jesus wieder aus der Stadt herausführt, den Kreuzweg… (vgl. hierzu: https://erziehungstrends.info/via-crucis-eine-spirituelle-entdeckungsreise).

Ein Weg

Vielleicht ertappen wir uns gelegentlich dabei, dass wir bei der Passionsgeschichte denken „das hätte doch anders laufen können“, oder „das wäre doch nicht nötig gewesen“ bzw. „warum hat er nicht so und so gehandelt, gesprochen, reagiert…?“ Aber wenn wir genau hinhören, dann erkennen wir am Ende, dass die beiden Wege an Palmsonntag und Karfreitag in Wirklichkeit nur ein einziger Weg sind. Ohne den Kreuzweg wäre der Einzug in Jerusalem nur eine vorübergehende Aufwallung von Begeisterung gewesen, so wie sie in der Religionsgeschichte immer wieder vorkommt. Erst der Kreuzweg gibt im Nachhinein dem Triumphzug seine Heilsbedeutung, und genau deshalb waren Lobpreis und Jubelrufe so passend und angebracht an jenem Tag, dessen wir am Palmsonntag gedenken.


[1]Zum gesamten Thema vgl. vor allem: Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. 2. Teil. Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Freiburg 2011. Passim.

[2]   Lk. 23, 3

[3]Eschatologisch: auf die „letzten Dinge“ bezogen.