Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir! Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus, der für uns am Kreuz gestorben ist.
Der Höhepunkt des Erlösungswerkes ist erreicht[1], aber aus menschlicher Perspektive gesehen ist es zunächst der tiefste Punkt. Der Tod am Kreuz galt im Römischen Reich als so schändlich und grausam, dass er römischen Bürgern nicht zugemutet werden durfte[2]. Der Todeskampf konnte viele Stunden dauern; wir wissen, welche Methode angewendet wurde, um ihn gegebenenfalls zu beschleunigen[3]. Bei Jesus kam es dazu nicht; aufgrund der barbarischen Auspeitschung und nach dem entkräftenden Todesmarsch durch die Stadt war er so geschwächt, dass er bereits gestorben war, als die Henkersknechte kamen, um den Gekreuzigten den Rest zu geben.
Noch kurz zuvor, in dieser Stunde äußerster existenzieller Not, findet Jesus aber die Kraft zu einer menschlichen, familiären Geste: seine unter dem Kreuz stehende Mutter in die Obhut des Jüngers Johannes zu geben (Joh 19, 26-27). Dieser war für ihn so etwas wie ein lieber kleiner Bruder, auf den er sich immer verlassen konnte; und Maria hatte, wie wir hier erkennen, sonst niemanden. Darin, und in der Vergebungsgeste seinen Peinigern gegenüber[4] erleben wir ein letztes Mal Jesu Menschheit, sein großes, liebendes Herz.
Zugleich erleben wir wahrhaft göttliche Größe. Einem der mit ihm Gekreuzigten sagt Christus Vergebung und Erlösung zu: „Noch heute wirst Du mit mir im Paradiese sein!“[5] Wer außer Gott selbst könnte das tun? Und er ist es, der sich hier erniedrigt, der Tod und Schande auf sich nimmt. Ohne das Wissen um den dreieinigen Gott wäre Golgotha nur ein düsterer Ort des Todes. So aber ist für alle Zeiten das Kreuz ein Zeichen der Hoffnung und des Sieges über das Böse und über den Tod. Denken wir immer daran, wenn wir uns mit den Worten bekreuzigen: „Im Namen des Vaters, und des Sohnes und des Heiligen Geistes“.
Was uns an der Schilderung der Passion Christi immer besonders ergreift und aufwühlt ist sein Verlassenheitsschrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mt 27,46 / Mk 15,34.). Da fühlen wir uns ihm besonders nahe; es ist auch der Schrei unzähliger Menschen in Not und Qualen. Aber gerade an dieser Stelle tiefster Not ist doch schon verborgen die Gewissheit der göttlichen Nähe da, denn Jesus betet hier mit den Anfangsworten von Psalm 22, der in Verlassenheit beginnt und in Gottvertrauen endet. Was auf den ersten Blick nach menschlicher Verzweiflung aussieht, enthält also schon den Keim der Erhörung und Erlösung in sich[6]. Und so ergeben sich wie von selbst Jesu letzte Worte am Kreuz: „Vater, in Deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23, 46).
[1]Vgl. hierzu: Josef Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Zweiter Teil. Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Freiburg, Basel, Wien 2010. S. 254 ff.
[2]Paulus, als römischer Bürger, wurde in Rom mit dem Schwert hingerichtet.
[3]Vgl. Joh 19, 31 ff: Den Delinquenten wurden die Beine zerschlagen. Die Körper sackten in sich zusammen und sie erstickten oder verbluteten. Was für eine Perversion des Denkens begegnet uns hier: um die wohltemperierte Feiertagsruhe des anbrechenden Festtages nicht zu stören, soll die Agonie der Verurteilten mit brutalen Schlägen beendet werden.
[4]Lk 23,34: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Vgl. dazu Ratzinger, a.a.O. S. 230 ff.
[5]LK 23, 43
[6]Ratzinger, a.a.O. S. 237 f.