Unüberhörbar schrillen die Warnsirenen in Schule, Hochschule und Ausbildungsbetrieben seit Jahren unisono: „So kann es nicht weitergehen!“ Leistungsbereite Schüler werden zu Außenseitern: ‚Blaumachen’ und ‚Abhängen’ wird zum Schulsport, – der übrige Nachwuchs lässt sich unmotiviert und lethargisch im Lern-Fluss dahintreiben, sehnsüchtig auf das Wochenende wartend, um endlich im großen Pool der Spaßkultur abtauchen zu können.

Wenn der Spaß zu ernsten Folgen in Schule und Beruf führt

So leidet einerseits der Wirtschaftsstandort Deutschland unter den vielen antriebslosen Jugendlichen und Erwachsenen, während uns gleichzeitig die allgegenwärtige Spaß-Industrie für alle Lebenslagen den leicht gemachten Genuss aufdrückt, um neue Konsumenten zu gewinnen bzw. abhängig zu halten. Die Alarmmeldungen überschlagen sich. Hier wird das Desaster als Erziehungsnotstand, dort als Erziehungskatastrophe bezeichnet.

Dann die nächste Hiobsbotschaft! Die PISA-Studie, eine internationale Vergleichsuntersuchung zur Effizienz und Effektivität schulischen Lernens, verweist das Land der Dichter und Denker auf die hintersten Plätze: Lesen, Rechnen, Arbeitshaltung, Problemlösungsfähigkeit, Denk- und Sprachvermögen mangelhaft. In Universitäten und betrieblicher Ausbildung kumulieren Nichtwissen und Desinteresse. Als Folge wirkt allzu oft der ‘Dreisatz’:

– antriebslos – ausbildungslos – arbeitslos!

Und was besonders erschreckend ist: Zu viele – zwischen Selbstbezogenheit und Gleichgültigkeit – dahindümpelnde Zeitgenossen bleiben tatenlos. So wird Sinnvolles oder gar Notwendiges gezielt verunmöglicht, wertvolle Energie in Belangloses oder Schädigendes investiert.

Spaßgesellschaft abschaffen?

Auch wenn so auf Dauer der eigene oder gesellschaftliche Untergang provoziert wird, eine event-süchtige Konsum-Gesellschaft hat halt eine ganz eigene Selbstvernichtungs-Dramaturgie. Um diesem Trend entgegen zu wirken, fordert der renommierte Freizeit- und Konsumforscher Horst W. Opaschowski kurz und bündig, die „Spaßgesellschaft abzuschaffen“. „Rastlos, heimatlos, oberflächlich“, so sein Resümee in der Studie zur „Generation @“ aus dem Jahre 1999.

Aber diese Forderung verhallte bislang. So weitet sich der Flurschaden einer Spaß- und Konsum-Fixiertheit bei der nachwachsenden Generation ständig aus.

  • Deutsche Kinder und Jugendliche leiden unter einem immensen Bewegungsmangel und psychomotorischem Stau: 40% der Zwölfjährigen haben Kreislaufprobleme, 33% Haltungsschäden, bei 50% liegt Muskelschwäche vor, 33% leiden an Schlafstörungen, Kopf- und Magenschmerzen. Neben geistiger und körperlicher Schlaffheit führen diese Symptome zu Versagensängsten und Lernstörungen. Beispielsweise liegt das sportliche Leistungsniveau heutiger Grundschüler um bis zu 20% unter dem der Kinder vor 20 Jahren, wie eine aktuelle Studie der Universität Karlsruhe ergeben hat.
  • Eine aktuelle Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) belegt: Deutsche Jugendliche sind Weltmeister in den Spezial-Disziplinen Alkoholkonsum, Rauchen, Kiffen, Müdigkeit, Bewegungsmangel, Über- bzw. Fehlernährung
  • Jedes zweite Kind im Alter von 6 – 12 Jahren hockt täglich mehr als 3 Std. vor TV-Geräten; durchschnittlich sieht diese Altersgruppe pro Woche 18,5 Stunden fern. Die Zeiten für elektronische Spiele und PC/Internet sind dabei nicht berücksichtigt.
  • Schulleiter gehen davon aus, dass ein Drittel aller Schüler nachmittags alleine zu Hause ist, jährlich gibt es 30.000 Suizidversuche unter Kindern, ein Drittel endet tödlich.
  • Nach einer Studie des Münchener Max-Planck-Institutes für Psychiatrie leiden 55% der 14 – 17Jährigen unter starken psychischen bzw. psychosomatischen Störungen wie Depressionen, krankhafter Angst, Essstörungen, zeigen Suchtverhalten, sind suizid-gefährdet.

Zunehmende Reizüberflutung

Die Reizüberflutung nimmt ständig zu, spült Interesse, Neugier, Motivation und Aufnahmefähigkeit als Basis von Lernbereitschaft hinweg. Gleichzeitig nehmen Konzentrationsfähigkeit, Antriebsstärke und Verantwortungsbewusstsein für das eigene Handeln rapide ab. Mit einer solchen Mitgift können junge Menschen keinesfalls die vielen Herausforderungen des Lebens in Beruf, Partnerschaft und Gesellschaft aufgreifen. Das Statement des renommierten Jugendforschers Klaus Hurrelmann ist auf diesem Hintergrund Situationsanalyse und Appell zugleich: „Kinder und Jugendliche bekommen zu wenig von dem, was sie brauchen, wenn sie zu viel von dem bekommen, was sie wollen!“
Hier eine Mini-Auswahl der Folgen:

  • 15 – 25 % der Jugendlichen brechen – je nach Branche differierend – ihre Berufsausbildung ohne Abschluss ab, meistens jedoch nicht wegen einer möglichen beruflichen Fehlentscheidung, sondern aus Gründen mangelhafter Belastbarkeit bzw. Einsetzbarkeit.
  • Es verwundert daher nicht, dass nach Untersuchungen vom Juli 2002 auch 25% der Studenten ihr Studium abbrechen. War es hier die falsche Wahl, ging es dort um eine zu geringe Leistungsfähigkeit.
  • Aber Unvermögen und Verantwortungsmangel werden auch im Bereich Freundschaft und Sexualität deutlich: So explodierte die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche bei den unter 15Jährigen zwischen 1996 und 2001 um 90% – gleichzeitig stieg in zwei Jahren die Zahl minderjähriger Mütter um 45%! ‚Grenzenloser Spaß, Sex als Konsumartikel’ so titelte eine Zeitung diese Fakten am 13.2.2003.

Nicht in Scheinlösungen zu geraten

Angesichts solcher Hiobsbotschaften bringen sich auch die Medien ins Erziehungsthema ein und rufen nach deutlicherem Durchgreifen: Nehmt die Kinder an ‘die Kandare’, ‘Strenge’ und ‘Gehorsam’ werden eingefordert! Aber weder eine ‘schnelle Wende rückwärts’ in unrühmliche Zeiten, noch eine ‚Flucht ins nur Andere’ kann weiterführen. Stattdessen ist zu fragen:

  • was Erziehung ausmacht,
  • weshalb sie stattfindet,
  • welche Ziele dabei anzustreben sind und
  • durch welche Bedingungen dieser in die Eigenständigkeit führen sollende Weg behindert oder gefördert wird.

Um also nicht in ein Nirwana der Scheinlösungen zu geraten, wird hier eine Neubesinnung zwischen Strenge und Selbstüberlassung favorisiert. Das erfordert Mut und vollzieht sich oft im wahren Wortsinn als Zumutung, weil eine ins Leben führende Erziehung kein Billigprodukt ist. Denn wer auf Dauerspaß abonniert ist, wird bald keinen mehr haben, ob als Einzelperson oder als gesamte Gesellschaft.

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Dr. Albert Wunsch
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler, Diplom Pädagoge und Diplom Sozialpädagoge. Bevor er 2004 eine Lehrtätigkeit an der Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann, leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre 2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni Düsseldorf und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach (DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern. Seine Bücher: Die Verwöhnungsfalle (auch in Korea und China erschienen), Abschied von der Spaßpädagogik, Boxenstopp für Paare und Mit mehr Selbst zum stabilen ICH - Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung, lösten ein starkes Medienecho aus und machten ihn im deutschen Sprachbereich sehr bekannt.