Gewiss haben die 2 Millionen Webseiten und 300 000 Bilder, die Google bei der Suchanfrage „Individuelle Förderung“ auflistet, nicht alle etwas mit der Förderung von leistungsschwachen Lernern in unseren öffentlichen Bildungseinrichtungen zu tun. 

Doch es dürfte ein nicht gerade kleiner Anteil davon sein, der sich mit der Frage beschäftigt, wie wir als Gesellschaft, wie wir als Schule, wie wir als Bildungsland möglichst viele Techniker und Lenker für die kommenden Jahrzehnte herauf befördern können. Es ist etwas faul im Staate Deutschland. Das weiß jeder, nicht erst seit der Corona-Krise, und man hat es auch schon lange kommen sehen.

Bildungsaktivismus

Uns fehlen gut ausgebildete, junge Leute, die die Geschicke unseres Landes und der Europäischen Union auch in den kommenden Zeiten in die Hand nehmen. Entweder wurden diese potentiellen Stützen der Gesellschaft und des sozialen Wohlfahrtsstaates nie geboren oder sie sind als Einwanderer nicht gut genug integriert worden. Ein Dilemma: Woher nehmen, wenn nicht fördern?

Beraten, Diagnostizieren, Orientieren, Förderpläne, Förderbänder, Drehtürmodelle, Komm Mit – Stunden. Was hat man sich in den letzten Jahren nicht alles einfallen lassen, um den von der OSZE so häufig gerügten Akademikermangel in Deutschland endlich zu beheben: Es soll länger gemeinsam gelernt werden. 

Die Sitzenbleiberquote wurde höchst ministeriell (auf niedrigem Niveau) festgelegt, die Schulzeit verkürzt, Förderpläne erstellt, die Lehrpläne kompetenzorientiert umorganisiert. Die Lehrerausbildung wurde reformiert, die Nicht-Versetzung in bestimmten Jahrgängen abgeschafft oder zumindest enorm erschwert. 

Der Erfolg ist auch sichtbar: Immer mehr junge Menschen machen hierzulande das Abitur, immer mehr können an den Universitäten ein Studium aufnehmen. Sind die Kinder plötzlich alle klüger geworden?

Die Schuldfrage

Die Grundannahme, die hinter all der Förder-Ideologik steckt, ist erstaunlich: Ein Kind ist nicht deshalb leistungsschwach und eventuell nicht dazu in der Lage, ein Studium zu absolvieren, weil es über bestimmte Fähigkeiten nicht verfügt, sondern weil es aufgrund gewisser sozialer und bildungstechnischer Faktoren derart benachteiligt ist, dass es sein Potential nicht ausschöpfen kann. 

Konsequent zu Ende gedacht heißt das, dass im Grunde alle Menschen völlig gleich sind, sie aber durch Einflüsse der Umwelt und soziale Determinanten künstlich voneinander geschieden werden – wie ungerecht! 

Wer also in der Schule zurückfällt oder gar sitzen bleibt, ist nicht selbst schuld, zu faul oder vielleicht im falschen Bildungsgang, sondern er wird zu wenig gefördert. 

Der Jahrhunderte alte Spieß wurde also umgedreht: Nicht der Schüler ist die Ursache seines vermeintlichen Versagens, sondern die Erzieher, Eltern und Lehrer, die ihn nicht genug fördern.

Daran mag einiges wahr sein. In zerrütteten und materialistischen Elternhäusern, wo Bildung nichts zählt und menschliches Miteinander und Lieben nicht gelingt, kann sich ein Kind kaum seinen Fähigkeiten gemäß entwickeln. Die Frage ist nur, ob der Staat und seine Diener in Schulen und anderen Bildungsanstalten diese Defizite tatsächlich ausgleichen können. 

Die nicht vorhandene Mutter oder der durchgebrannte Vater kann auch nicht von einer liebevollen Erzieherin oder einem engagierten Lehrer ersetzt werden. Natürliche Bindungen und professionelle Beziehungen auf Zeit sind alles andere als gleichwertig. Die zerstörte oder defizitäre Familie kann auch der Fürsorgestaat nicht kompensieren.

Richtig fördern

Andere Mängel wie zum Beispiel die fehlenden Bildungsangebote im familiären Haushalt können in der Tat durch andere Einrichtungen bereitgestellt werden. 

In der schulischen Praxis zeigt sich aber der große Denkfehler der Über-Förderer: In den „problematischen“ Pubertätsjahren, wo in aller Regel die Schwierigkeiten eskalieren, wollen viele Jugendliche gar nicht gefördert, sondern einfach nur in Ruhe gelassen werden. 

Zur Bildung gehören immer zwei: Einer der bildet und einer, der sich bilden lassen will. Nur positive Anreize setzen, immer nur neue Förderangebote machen, reicht nicht. Wenn einer nicht will, will er nicht, da kann sich der wohlmeinende Pädagoge auf den Kopf stellen. 

Die Förder-Ideologie beruht auf einem wahnwitzigen Menschenbild, wonach alle Menschen von Natur aus gut sind und nur das Gute wollen. Neigung zur Bequemlichkeit, die Trägheit der Masse, dem Weg des geringsten Widerstands folgen – all das sind Dinge, die nicht in die Köpfe der Ideologen passen. Ein Kind, ein Jugendlicher, ja auch ein Erwachsener, der nicht die negativen Folgen seines Handelns spürt, wird im Zweifel nicht auf Anstrengung und Leistung setzen. 

Wozu zum Beispiel sich in der Schule anstrengen, wenn die schlechteste Zensur ohnehin die „vier“ ist und durch „das Mündliche“ auch noch der letzte Algebra-Analphabet eine ausreichende Leistung attestiert bekommt. Eigentlich wissen das alle, doch keiner tut etwas dagegen. Zu schön ist diese neue pädagogische Kuschelwelt. Im Nebenfach eine „fünf“? Wo ist die Anschrift des Dezernenten?


Die Folgen derweil sind verheerend. Leistungsintensive Fächer und verantwortungsvolle berufliche Tätigkeiten werden zunehmend gemieden. Wieso Altenpfleger oder Feuerwehrmann, Handwerker oder selbständiger Unternehmer werden, wenn es auch einfacher geht? 

Wie süß das Leben für die einen, wie hart und anstrengend für die anderen sein kann, wissen Studenten sehr genau, wenn sie sich einmal in den philosophischen und einmal in den naturwissenschaftlichen Fakultäten umgesehen haben. Lieber Pädagogik und Sozialwissenschaften als Physik und Informatik. 

Und all das ist noch nicht einmal verwerflich: Wer kann es nicht gut verstehen, wenn junge Menschen, die sich angesichts einer pessimistischen und hyperskeptischen Öffentlichkeit zunehmend in der Defensive sehen, auf Nummer sicher gehen statt etwas Herausforderndes zu wagen?


Es wird Zeit, zu einem realistischen und dem gesunden Menschenverstand entsprechenden Konzept zurückzukehren. Die Jungen und Mädchen wollen und können – verziehen wir sie nicht durch Verhätscheln und Überfördern. Schluss mit lustig – es ist wirklich höchste Zeit für das Ende einer falsch verstandenen Förderpädagogik.