Welche Kinder sind robuster? Diejenigen, denen die Eltern ein Leben im Schongang ermöglichten oder diejenigen, welche reichlich Herausforderungen zu bestehen hatten?

Beispiele der Unterforderung

Stellen Sie sich selbst die Frage, wo es in der Familie oder Schule, z.B. im Sportunterricht, Beispiele der Unterforderung gibt und wie es zu einem solchen Verhalten kommt. Wir finden eine Antwort bei den klassischen Verwöhnmotiven:

  • Erhalt der eigenen Ruhe (das eigentliche Bedürfnis nicht wahrhaben wollen)
  • Vermeidung von Entscheidungen und Konflikten (keine Position beziehen wollen)
  • Gewinn oder Erhalt von Sympathien (gefallen wollen, Dankbarkeit erzeugen wollen)
  • Begrenzung von Verantwortung (zur Reduzierung der eigenen Unsicherheit und Angst)
  • kurzfristiger Gewinn von Zeit.

Die Grundhaltung, immer den einfachen Weg gehen zu wollen, der fehlende eigene Lebensmut, werden zum Gradmesser für eine Disposition zum Verwöhner. Den Grund für einen solchen gesellschaftlichen Trend sehe ich in folgendem Phänomen:

Wir haben kollektiv verdrängt: Wachstum – Erwachsen-Werden – entsteht durch Anstrengung, durch das eigenständige Meistern von Aufgaben oder Problemen, entweder auf einzelne Personen oder eine ganze Gesellschaft bezogen. (Wirtschaftswachstum)

Im Bereich des Sports ist dies offensichtlich. Dann, wenn es fast nicht mehr geht, wenn es anfängt weh zu tun, erweitert sich unser Können, werden Leistungsgrenzen überschritten.

Auch für die Aneignung von Wissen, technischen Fertigkeiten, geistiger Fitness trifft zu, dass nur ein ‘Dranbleiben’ die Kondition erweitert oder wenigstens hält. Und für das Entwickeln von sozialer Kompetenz ist dies keinesfalls anders. Hier sind dann ‘seelische Muskeln’ zu trainieren, um fit zu werden bzw. zu bleiben. Fehlt ein solches Training, werden Hürden als angeborene Grenzen oder als störende Akte der Umwelt erlebt.
Immer geht es um:

  • vom Noch-Nicht-Können zum Immer-umfangreicher-Können
  • vom Verharren vor Hürden zum: „Wie kann es trotzdem gehen!“ zu gelangen.

Fehlt ein solches Training, werden Hürden als angeborene Grenzen oder als störende Akte der Umwelt erlebt, wird Erwachsen-Werden verhindert. Setzt hier kein Kurswechsel ein, geraten noch mehr perspektivlose Nesthocker unvorbereitet als Berufstätige in einen aggressiven Wettbewerb innerhalb globaler Wirtschaftsstrukturen. Für Menschen mit wenig Können und Wollen bleiben dann nur Randpositionen oder Bauchlandungen. Denn nur starke Kinder werden sich mutig den vielfältigen Herausforderungen des Lebens stellen! Um dieses Ziel zu erreichen, existieren geeignete und weniger geeignete Wege.

Die Regel 3 – 3 – 3

Spaßpädagogik – Verwöhnen – Unterforderung als Nährboden äußert sich als:

  • Falsches Helfen: Eltern übernehmen die vom Nachwuchs selbst zu erlernenden Funktionen
  • Fehlende Begrenzung : Eltern kapitulieren vor den Aktionen ihrer Kinder bzw. Jugendlichen
  • Ausbleibende Herausforderung: Eltern verhindern eine mutmachende Entwicklung

Die Folgen sind:

Nichtkönnen -> Abhängigkeit -> Anspruchshaltung

Die subtile Botschaft solcher Akteure lautet: Ich traue es dir nicht zu. Schau her, ich kann es besser.

„Kinder bekommen zu wenig von dem, was sie brauchen, wenn sie zu viel von dem bekommen, was sie wollen“,

wie Jugendforscher Klaus Hurrelmann herausstellt.

Aber: „Aus Kindern, die zu viel dürfen, werden Jugendliche, die zu wenig können.“

Unterforderung bzw. Verwöhnung heißt, Kinder vor vermeintlich unangenehmen oder schwierigen Aufgabenstellungen bzw. Lebenserfahrungen schützen zu wollen und sie damit gleichzeitig unvorbereitet den Anforderungen des Lebens in Beruf, Partnerschaft und Freizeitgesellschaft auszusetzen:

  • „Diese Mühe habe ich ihr erspart, ich tat es gerne!“
  • „Damit es nicht noch länger dauert, mir geht es wirklich leicht von der Hand!“
  • „Lass es, ich mach das schon für dich!“
  • „Wenn du es nicht möchtest, ist das auch nicht schlimm.“

Schließlich bereitet Helfen ja Freude, einem Gegenüber ein Leben im Schongang zu ermöglichen, vermittelt das gute Gefühl des Gebrauchtwerdens.

Ein Gedanken-Experiment

Dem Goldhamster das Laufrad nehmen, damit er sich nicht mehr genötigt sieht, sich per Dauer-Rennen zu schinden, um sich tagsüber ganz entspannt auf die Nacht-Ruhe einstellen zu können. Übertragen Sie das auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen.

Wichtig ist: Wer sich für eine alters- und anlagengerechte Herausforderung einsetzt, engagiert sich gleichzeitig für einen neuen Umgang mit Menschen.

Und dieser Handlungsrahmen wird durch drei Worte konkretisiert:

  • wohlwollend
  • vorlebend
  • konsequent

Und dies kann nach meiner Einschätzung nur ein Mensch, wenn er aus wohlverstandener Zuwendung und Liebe handelt. Wer unterfordert bzw. verwöhnt, verstößt gegen das Gesetz: ‘Alle Erziehungsmaßnahmen sind zum Wohle des Kindes durchzuführen’. (Grundgesetz Artikel 6 sowie BGB §§ 1626 u. 1627 sowie die Präambel des KJHG/ bzw. StGB 8)

Jede Unterforderung verhindert kontinuierlich:

  • Interesse und Neugier
  • Auseinandersetzungsbereitschaft
  • Kraft und Ausdauer
  • Eigeninitiative
  • Zielstrebigkeit
  • Angemessene Rückmeldungen
  • Anerkennung (wer keine Anerkennung findet, erkennt auch nichts Anderes an!)
  • Grenzerfahrungen
  • Selbst geschaffenen Erfolg
  • Ein realistisches Selbstbild und damit Selbstvertrauen (wer sich nicht traut, traut auch keinem Anderen)
  • Zufriedenheit und Selbstwert (wer sich selbst nicht als Wert erfährt, achtet auch keine anderen Werte)
  • Lebensmut
  • Toleranz und Rücksicht
  • Eigenständigkeit
  • Verantwortung
  • soziale Kompetenz

Jede Unterforderung verhindert ein erfolgreiches Leben!

Folgen einer kontinuierlichen Verhinderung:

  • Trägheit
  • Unfähigkeit und Verfallenheit (sowohl körperlich als auch geistig!)

Einige Konkretisierungen:

  • große Defizite im Sprach- und Sprechvermögen (25% der 3 – 4Jährigen sind sprachlich zurückgeblieben; Ende der 70iger Jahre lag die Quote bei 4%. (So der Direktor der Klinik für Kommunikationsstörungen an der Uni Mainz.)
  • ein rapides Abnehmen von Antriebsstärke bzw. Anstrengungsbereitschaft
  • eine rasante Zunahme an übergewichtigen Kindern und Jugendlichen als Folge einer zu geringen Bewegungs-Herausforderung, oft in der Kombination mit Frust-Essen. Weniger als ein Drittel der Kinder in Deutschland erreicht die 60 Minuten Bewegung am Tag, wie sie von der Weltgesundheits-Organisation empfohlen wird. 86% der Kinder können nicht eine Minute lang auf einem Bein stehen. 26 % der Grundschulkinder, welche zur Schule mit dem elterlichen PKW gefahren werden, haben einen Schulweg von unter 800 Metern.

Damit wachsen Kinder und Jugendliche in die Unfähigkeit. So können sie weder Eigenständigkeit, Selbstvertrauen noch Lebenskompetenz entwickeln. So ist jede leicht gemachte Annehmlichkeit ein Training zur Unfähigkeit.

Infolge dieser fehlenden Fähigkeiten und damit ausbleibender Erfolge bzw. positiver Rückmeldungen verursacht jede Unterforderung Entmutigung, Misserfolg und Frustration.

  • nicht mehr Wollen führt zu Unterwerfung und Selbstaufgabe, und schließlich zur Depression
    oder zur Selbstzerstörung
  • gewaltsam alles Haben-Wollen führt zu Herrschsucht und zur Aggression
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Dr. Albert Wunsch
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler, Diplom Pädagoge und Diplom Sozialpädagoge. Bevor er 2004 eine Lehrtätigkeit an der Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann, leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre 2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni Düsseldorf und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach (DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern. Seine Bücher: Die Verwöhnungsfalle (auch in Korea und China erschienen), Abschied von der Spaßpädagogik, Boxenstopp für Paare und Mit mehr Selbst zum stabilen ICH - Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung, lösten ein starkes Medienecho aus und machten ihn im deutschen Sprachbereich sehr bekannt.