Die Vorbereitung junger Menschen auf ihre zukünftigen Aufgaben in Beruf, Partnerschaft, Familie und Gesellschaft stellt sich in der aktuellen kulturellen Situation als nicht leicht dar. Vorbilder spielen dabei eine entscheidende Rolle. Albert Wunsch gibt in einer Artikelserie grundsätzliche Orientierungen für diese wichtige Erziehungsdimension.

Vorbilder im Sinne einer lebenspraktischen Weltaneignung

So eigenwillig wie klein Felix macht sonst nur noch Opa Olaf die Schnürsenkel zu; die Redewendung: „Ja, ja, ich komme gleich sofort!“ hat Ursula eindeutig von der Mutter übernommen; die Art, wie Sebastian mit: Zapperalot noch mal!“ Missfallen zum Ausdruck bringt, ist eine perfekte Kopie des Verhaltens vom Vater in vergleichbaren Situationen. 

Und wenn die 13jährige Jutta die Sommerferien bei Oma auf dem Bauernhof verbracht hat, wird sie sich wieder ein paar neue Kochrezepte angeeignet haben. Alle Bezugspersonen von Kindern werden so – ob gewollt oder nicht – zur Kopiervorlage.

Der Großvater – die Großmutter

„Wenn ich an meinen Großvater denke, dann sehe ich ihn mit Nadel und Reihgarn hantierend – aus seiner schlesischen Heimat erzählend – auf dem Zuschneide-Tisch sitzen, während ich als Sechsjähriger in der Restekiste nach schönen Futterstoffen suchte, um diese anschließend – mit kleiner fachlicher Unterstützung – auf der Nähmaschine in Puppenkleider für meine Petra zu verwandeln. Heute denke ich als Erwachsener gerne an diese Zeit, denn die Erfahrungen in Opas Schneiderwerkstatt wurde zur Voraussetzung dafür, recht gut das Nähen und den Umgang mit Schnittmustern erlernt zu haben.“ 

Dieser Rückblick eines Mitfünfzigers offenbart, wie anregend die Atmosphäre – zwischen Stoffballen, Schneiderwatte, Großbügeleisen und Nähmaschine – bei Großvater für den kleinen Enkel gewesen sein muss.

Orte der Welterfahrung

Ähnliches vollzieht sich im Umgang mit Kindern in Küchen, Backstuben, Wäschezimmern, Pferdeställen oder Werkstätten, auf Bauernhöfen oder im Schrebergarten. So wird eine zum Beobachten, Fragen und Mitmachen anregende Situation in der Verbindung mit ermutigenden Menschen, welche in einer Mischung aus Zulassen, Herausfordern und Fördern einem Kind oder Jugendlichen neue Erfahrungsräume erschließen, zur Schlüsselerfahrung für das Entwickeln von Interesse, Wollen und Können. 

Fehlt diesem Lernfeld die Breite und Vielfalt, weil ängstliche oder verwöhnende Erwachsene die von Kindern und Jugendlichen zu machenden Erfahrungen nicht zulassen, wird jeglichem Wachstum von Lebensmut und Handlungsgeschicklichkeit der Nährboden entzogen. Stattdessen wird sich Zögerlichkeit, Unvermögen und Versagen ausbreiten.

Große Bedeutung von Ritualen

Aber nicht nur Sprachmuster, Alltagsgeschicklichkeit, Krisenmanagement oder Strategien zur Wissensaneignung werden kopierend und kooperierend erlernt, sondern die dabei deutlich werdenden Handlungsabläufe, ob als Gepflogenheit, Ritual oder Tradition, erhalten ebenso eine Vor-Bild-Funktion. 

So lernt ein Kleinkind z.B. nicht nur die Geschicklichkeit im Umgang mit einer Zahnbürste, sondern übernimmt in der Regel gleichzeitig von den Eltern oder älteren Geschwistern die Säuberungs-Intervalle. So werden Nahrungsaufnahme und anschließende Zahnreinigung zu einem Gesamtvorgang. 

Gewohnheiten

Regelmäßig wiederkehrende Handlungen im Tagesgeschehen oder Jahresablauf erleichtern ihre Beachtung und stützen die Verwirklichung von Zielsetzungen, ohne sich immer erneut in eine reflektierte Entscheidungssituation bringen zu müssen.

Dies gilt ganz besonders für Kleinkinder. Ob abendliche ‚gute-Nacht-Rituale’ in der Familie, Standard-Abläufe bei gemeinsamen Mahlzeiten, gesellschaftliche Höflichkeitsregeln, Traditionen in der Gestaltung von Festen, am Wochenablauf orientierte Säuberungsaktionen an Körper oder Zimmer, immer geben regelmäßig wiederkehrende Handlungsabläufe Kindern und Jugendlichen emotionale Sicherheit und kognitive Orientierung. 

Je stimmiger und selbstverständlicher diese Muster von den vor-lebenden Personen des direkten Umfeldes übernommen werden konnten, umso effektiver werden solche – sich quasi selbst steuernden Handlungs-Rhythmen – das alltägliche Handeln entlasten bzw. stabilisieren.


Zu den anderen Folgen der Artikelserie

Teil 1
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Dr. Albert Wunsch
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler, Diplom Pädagoge und Diplom Sozialpädagoge. Bevor er 2004 eine Lehrtätigkeit an der Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann, leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre 2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni Düsseldorf und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach (DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern. Seine Bücher: Die Verwöhnungsfalle (auch in Korea und China erschienen), Abschied von der Spaßpädagogik, Boxenstopp für Paare und Mit mehr Selbst zum stabilen ICH - Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung, lösten ein starkes Medienecho aus und machten ihn im deutschen Sprachbereich sehr bekannt.