Im dritten Teil seiner Ausführungen betont Torelló die tiefe Seinsbindung der Sexualität. Sie ist eben nichts „Oberflächliches“, was zwischen zwei Körpern geschieht, sondern sie muss im „Kern“ des Menschen, in seiner Personalität, verankert sein. Ist das nicht der Fall, dann führt dies nicht nur zu einem Verlust der Achtung voreinander und der Liebe zueinander, sondern zu verschiedenen Störungen der Sexualität selbst.

Die Bedeutung des Personalen in der Begegnung der Geschlechter

Person ist also das Selbstsein eines geistig inkarnierten Wesens, das aber zu seiner Verwirklichung und Erfüllung des Mit-Seins mit dem anderen bedarf. Auch in der Theologie wird die Personalität in Gott auf diese Weise betrachtet und bestimmt: Innerlichkeit, Eigentlichkeit und immer auch Beziehung zum Anderen, Selbstsein und Mit-Sein. Das Ich erwacht zu sich selbst durch das Du, und so sind in der menschlichen Personalität beide Elemente unauflöslich verkettet: das Selbstsein eines geistigen Wesens in Ausrichtung auf ein Mit-Sein; und das „In-sich-Sein“ eines Geistes verbunden mit einem „Sein für den Anderen“.

Da der menschliche Leib, der als konstitutiver Bestandteil zum Wesen der Person gehört, den Geist erscheinen lässt, muss der Leib seine Bedeutung für das Mit-Sein besitzen und behalten, also für die Beziehung zum Du und für den Austausch mit dem Du. Obwohl dieser Austausch im Leiblichen zwar nicht sofort einseitig auf die Sexualität beschränkt werden darf, gilt grundsätzlich doch folgendes: Da die Sexualität zum Leib gehört, und die Person auf die andere Person angewiesen ist, darum gehört zur Erfüllung des menschlichen Mit-Seins auch der leibliche Austausch in der innigsten und tiefsten Form, nämlich in der geschlechtlichen Vereinigung.

Höchste Form des personalen Miteinanders

Freilich muss an dieser Stelle ein entscheidender Gedanke eingefügt werden, der das Missverständnis abwehrt, dass nun jeder Mensch aufgrund seines Mit-Seins mit dem anderen auch schon das Geschlechtliche beanspruchen könne und dürfe – das wäre eine Aufforderung zur Promiskuität. Deshalb muss hier die Bedeutung des Personalen für die Begegnung der Geschlechter noch deutlicher hervorgehoben werden, damit erkennbar wird, was die Formel „Sexualität ist Ausdruck der Personalität“ genau und im vollen Sinn besagt.

Diese Formel spricht nämlich eine deutliche Abgrenzung aus, ja eine Ausschließlichkeit der geschlechtlichen Begegnung: dieses Ich mit diesem Du, exklusiv, definitiv. Das hängt wiederum mit dem Wesen der Person zusammen. Jede Person, sagten wir, ist unteilbar, unwiederholbar. Kontakt zwischen Personen ist daher einmalig, unwiederholbar, einzigartig, exklusiv, definitiv. Die höchste Form des personalen Miteinanders ist die der personalen ganzheitlichen Liebeshingabe.

Das leiblich-geschlechtliche Mit-Sein ist Ausdruck oder Austragung der ganzheitlichen personalen Liebe. Nicht jede Form des menschlichen Mit-Seins kann die Form der leib-seelischen Ganzhingabe der Liebe annehmen. Es gibt viele Erscheinungsformen des personalen Mit-Seins, des Ich – Du, selbst zwischen Menschen ungleichen Geschlechtes, die nicht die Weise der totalen personalen Liebe, ganzheitlicher leib-geistiger Hingabe annehmen können.

Nicht Männchen und Weibchen

Es ist von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass diese totale leib-geistige Hingabe an einen anderen eine einmalige Größe und Werthaftigkeit besitzt wie keine andere zwischenmenschliche Beziehung. (Die katholische Theologie sagt, das ist ein Mysterium, das ist ein Sakrament, das einzige Sakrament, das in einer menschlichen Beziehung besteht.)

Auf gar keinen Fall ist sie mit der rein physischen Anziehungskraft zu vergleichen, die im tierischen Bereich Männchen und Weibchen zueinander zieht. Zudem ist sie auch auf menschlicher Ebene nicht zu vergleichen mit jener Fehlform geschlechtlicher Befriedigung, die ohne jede personale Liebe zum Zweck des Lustgewinnes verwirklicht wird. Maßgeblich sind vielmehr dabei Selbsterkenntnis und Erkenntnis des anderen – mein Wert, dein Wert.

Was Liebe ist

Wenn wir von Liebe reden, dann verstehen wir darunter weder eine Bewegung des Eros, noch meinen wir hier einen Akt, noch eine Einstellung; noch weniger darf man Liebe als Empfindung oder Gefühl oder sublimierten Trieb verkennen. Liebe ist eine ganz besondere Art und Weise des In-der-Welt-Seins, bei der die Einheit und die Ganzheit von Ich und Du in der Form der gegenseitigen, restlosen Hingabe lebendig verwirklicht werden, die also die geistigen und die leiblichen Bereiche der Existenz mit einschließt.

Sexualität ist Inkarnation, leibliche Vergegenwärtigung dieser Liebe. Sie ist nicht bloß Ausdruck der Liebe, sie ist Liebe. Die Liebkosung ist nicht Ausdruck der Liebe, sie ist Liebe: sie ist Kontakt nicht einfach zwischen zwei Körperflächen, sondern zwischen zwei realen Personen; sie ist Liebe -ausgetragen in den leiblichen Bereich. Nicht etwas Geistiges, das dann einen leiblichen Ausdruck erhält, sondern wirklich Austragung des Innigsten in den leiblichen Bereich. Sexualität ist Liebe, aber nicht nur insofern sie betätigt und befriedigt wird; sie kann auch Liebe sein, wenn sie unbefriedigt bleibt, ja selbst dann, wenn sie zugunsten frei gewählter oder angenommener Enthaltsamkeit geopfert wird: vor der Ehe, innerhalb der Ehe oder im endgültigen Zölibat um des Himmelreiches willen.

Die Art und Weise der Liebe – ihre Enge oder ihre Weite -, der Grad der Hingabe usw. verleiblichen sich im sexuellen Verhalten. Allen Sexualstörungen liegt eine Einschränkung der Möglichkeiten des Liebesbezuges durch Vereinzelung, Eigensinnigkeit, Angst und ähnliches zugrunde. Diese Gestimmtheiten ich-artiger Einengung, wie etwa Furcht, beeinträchtigen das liebende In-der-Welt-Sein, sei es im seelischen, sei es im leiblichen Austragungsfeld in der Gestalt von Liebes- und Sexualstörungen. Das bedeutet, dass das sexuelle Verhalten des Menschen nicht hauptsächlich von seiner Veranlagung oder von der sozialen Struktur, in die er eingebettet ist, abhängt. Das sexuelle Verhalten eines Menschen kann immer verwandelt werden, wenn sich die Art und Weise des In-der-Welt-Seins der konkreten Person, also die Art ihrer Beziehung zu sich, zum Mitmenschen, zum Leben, zu den Werten und zu Gott ebenfalls entsprechend verwandeln.

Die Person muss geliebt werden

Liebe besteht eigentlich nur zwischen einander hingegebenen Personen, nicht aber in der Beziehung zu Idealen, zu Werten oder zu Abstraktionen, wie Wissenschaft, Menschheit, Religion, Politik. Auch wenn jemand meint, die Politik zu lieben oder gar verheiratet mit ihr zu sein, so ist das doch nicht Liebe: „Nur die Person kann lieben, und nur die Person kann geliebt werden … Die Liebe ist ein ontologisches und ethisches Bedürfnis der Person. Die Person muss geliebt werden, denn allein die Liebe entspricht dem, was eine Person ist.“ (17)
Auch ist dort keine Liebe vorhanden, wo der Partner instrumentalisiert wird, weil bei ihm primär Lust, oder Gesundheit oder Entspannung gesucht werden. Das Du wird dann zu einem Ding, würde Gabriel Marcel sagen. Und diese Vernebelungen, diese Verstümmelungen der Liebe werden schließlich in Sexualstörungen ausgetragen.

Liebe im Zölibat

Gleiches geschieht auch im Fall des zölibatären Priesters, der bloß Religion oder Kirche oder Gesellschaft lieben oder ihnen dienen möchte; oder im Fall jenes Menschen, für den die Liebe zum lebendigen, gegenwärtigen Christus bloß zur Sache Jesu geworden ist, dessen Glaube an die Aktualität und Lebendigkeit Christi und seines Leibes, der Kirche also geschwächt wurde, und der darum keine personale, integrierende Liebe vollzieht. Er wird den Zölibat nicht als Austragung dieser Liebe erleben, sondern gerade als Einschränkung, als Belastung, als Pflicht, das heißt negativ, falsch, schlecht, frustrierend.

Liebe als personale Ganzhingabe

Die sexuelle Hingabe von Mann und Frau als der höchste Punkt auf der Stufenleiter der Zärtlichkeit soll der höchsten Hingabe auf der personalen Ebene entsprechen, und sie kann, wenn sie in humaner Gestalt vollzogen wird, als Realsymbol dieser Hingabe definiert werden. Personen aber können sich nur definitiv einander hingeben, wie schon Papst Johannes Paul II. geschrieben hat: „Auf wahrhaft menschliche Weise wird die sexuelle Hingabe nur vollzogen, wenn sie in jener Liebe integriert ist, mit der Mann und Frau sich bis zum Tod vorbehaltlos einander verpflichten. Die leibliche Hingabe wäre eine Lüge, wenn sie nicht Zeichen und Frucht personaler Ganzhingabe wäre, welche die ganze Person auch in ihren zeitlichen Dimensionen einschließt!“ (18)
(Fortsetzung folgt: Sexualität als Selbstzweck)


Anmerkungen


(17) Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben „Mulieris dignitatem“, Bonn 1988, Nr.29, S.64


(18) Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben „Familiaris consortio“, Bonn 1981, Nr.11, S.15

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Johannes B. Torelló
* 7. November 1920 in Barcelona; † 15. August 2011 in Wien - war ein aus Spanien stammender österreichischer Geistlicher und römisch-katholischer Theologe sowie weltbekannter Neurologe und Psychiater. - Zahlreiche Werke über Themen des Grenzgebietes Psychiatrie-Seelsorge-Spiritualität. Mehrmals übersetzt wurden zwei Bücher: „Psicanalisi e confessione“ und „Psicologia Abierta“ (auf Deutsch ursprünglich als Essays in der Wiener Monatsschrift „Analyse“ erschienen). Andere Titel von Vorträgen, Aufsätzen usw.: Medizin, Krankheit, Sünde; Zölibat und Persönlichkeit; Was ist Berufung? Die Welt erneuern (Laienspiritualität); Über die Persönlichkeit der ungeborenen Menschen; Erziehung und Tugend; Glauben am Krankenbett; Arzt-Sein: Soziale Rolle oder personaler Auftrag? Die innere Strukturschwäche des Vaters in der heutigen Familie; Echte und falsche Erscheinungen; Schuld und Schuldgefühle; Die Familie, Nährboden der Persönlichkeitsentwicklung; Neurose und Spiritualität; Über den Trost; Lebensqualität in der Medizin.