(Bild-Ausschnitt: „Die Sieben Todsünden und Die vier letzten Dinge“ – Hieronymus Bosch. Kommentar zum Bild-Ausschnitt: Als der Hunger in unseren Breiten noch eine reale Gefahr nach jedem Winter war, wurde die „Völlerei“ als besonders verwerflich angesehen, weil man die raren Lebensmittel mit Bedacht konsumieren sollte. Die dargestellte Szene wird von einem unsympathischen Fettwanst geprägt, der von einem ebenso fetten Kind bedrängt wird. Schon kommt der nächste Gang – wohl von der Ehefrau getragen. Irgendein Gast trinkt gleich aus dem Krug und hat – weil er wohl schon zuviel genossen hat – seinen Hocker umgestoßen. Zum vollständigen Gemälde gelangen Sie -> hier )

Ebenso wie die „Wollust“ kommt uns das Laster der Völlerei spontan irgendwie vertraut vor. Mehr als bei den „geistigen“ Haupt-Sünden (Hochmut, Habsucht, Neid, Zorn, z.T. auch Trägheit[1]), die nicht immer offen sichtbar sind und sich in äußerlich unbeanstandetes Verhalten einschleichen können, ist uns fast instinktiv und unmittelbar bewusst, dass es hier ein Problem gibt, eine Versuchung, zumindest ein Risiko der Übertreibung mit Nebenwirkungen. Aber auf den zweiten Blick stellen sich Fragen.

Fresser und arme Schlucker

„Völlerei“, das zeigt schon das etwas altmodische Wort, ist seit alters Teil aller Laster-Kataloge; schon in Antike und Mittelalter zählte sie zu den moralischen Bedrohungen des Menschen. Aber wieso eigentlich? Dass wir heute mit zu viel und zu kalorienreichem Essen ein Problem haben, das leuchtet ein; aber früher…?

Waren beispielsweise die Bauern, Handwerker, einfachen Leute in der Spätantike und im frühen Mittelalter wirklich von der Sünde des übermäßigen Essens bedroht? Hatten sie nicht vielmehr zu kämpfen, um überhaupt satt zu werden? Oder wie sollen wir uns vorstellen, dass der sprichwörtliche „arme Schlucker“ z.B. des 16. oder 17. Jahrhunderts – einer klimatisch belasteten Zwischen-Kaltzeit mit schlechten Ernten – nun ausgerechnet von der Völlerei bedroht war? Wie groß war sein Risiko, sich an dünnem Hirsebrei zu „überfressen“?

Kein Luxus-Problem

Nun möchte man also mutmaßen, es handele sich bei diesem Laster um ein reines Oberschicht-Phänomen, das erst in den Zeiten der industriellen Landwirtschaft, die Milliarden Menschen ernähren kann, zu einem Massenphänomen geworden sei. Erst in den letzten Jahrzehnten ist in vielen Schwellenländern das Problem der Unterschicht-Fettleibigkeit entstanden, der ungesunden Fehl-Ernährung, die gewissermaßen ein perverser Zwilling der Mangelernährung ist.

Zu den unvermeidlichen Folgen gehört die Zunahme von vermeintlichen Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes unter armen Leuten, die früher womöglich gehungert hätten. Es geht also heutzutage ganz sicher nicht allein um ein Problem reicher Prasser oder psychotischer Bulimisten.

Das hier gemeinte Laster ist aber immer schon eines gewesen, das alle Menschen und Schichten bedrohen kann. Unter den sieben Haupt-Lastern ist keines, das nur für bestimmte Schichten, einzelne Gruppen oder Völker relevant wäre. Tugend- und Lasterkataloge beziehen sich stets auf Allgemeinmenschliches, das jeden Einzelnen betreffen und bedrohen kann. So wie das Laster der Habsucht nicht nur ein Phänomen unter Reichen ist[2], so ist es auch die Völlerei nicht.

Es geht nicht in erster Linie um die Menge und Häufigkeit des Essens und Trinkens, auch nicht um die Art der Speisen und Getränke, sondern darum, wie man sich ihnen hingibt, und ob das Materielle alles bestimmt, wodurch es zur Sucht, zur Obsession, zum Missbrauch kommt.

Der Schlund

Zum besseren Verständnis kann es helfen, das lateinische Wort zu betrachten, mit dem das Laster der Völlerei in philosophischen Tugendlehren traditionell benannt wird. „Gula“[3] bezeichnet den Schlund, die Speiseröhre und steht, jenseits des Anatomischen und im Gegensatz zur Zunge oder dem Gaumen, nicht für den verfeinerten Genuss, sondern für das unkontrollierte, maßlose Schlingen und „Fressen“. So wie das Wort „Schlund“ fast immer eine negative Konnotation hat, steht die Tätigkeit des Befüllens des Schlundes für ein quasi entmenschlichtes, hemmungsloses Herunterschlingen von Nahrungs- und Genussmitteln.

So ungerecht es oft ist, das Verhalten von Tieren mit moralisch besetzten menschlichen Begriffen zu belegen[4], so passend ist es in diesem Fall, wenn man sich z.B. die Ernährungsgewohnheiten von Krokodilen und Löwen, oder auch nur von bestimmten heimischen Kröten ansieht, die tatsächlich enthemmt und scheinbar unkontrolliert herunterschlingen was nur geht[5]. Uns allen ist bewusst, dass es einen Unterschied zwischen „essen“ und „fressen“ gibt. Aber warum ist das eine davon für Menschen unwürdig und sogar schuldhaft, eben eine Sünde?

Tierisches und Menschliches

Im siebten Buch seiner „Nikomachischen Ethik“ nennt Aristoteles „drei Arten dessen, was man auf dem sittlichen Gebiet meiden muss: SchlechtigkeitUnenthaltsamkeit und tierische Roheit[6]. Interessant ist im hiesigen Zusammenhang, wie er das jeweilige Gegenteil definiert. Während es für die beiden ersten Begriffe leicht ist, einen kompakten Gegenbegriff zu finden (Tugend bzw. Enthaltsamkeit) braucht es für das Gegenteil der „tierischen Rohheit“ eine fast umständlich klingende Definition: „eine übermenschliche, gewissermaßen heroische und göttliche Tugend“[7].

Für den antiken Philosophen ist es offenbar selbstverständlich, dass es dem Menschen aufgegeben ist, sich über das rein Materielle zu erheben und nach einer höheren Vollkommenheit zu streben. Dem würde aber ein Abstieg in quasi tierisches Verhalten – in dem der Bauch bzw. der Schlund die Herrschaft übernimmt – widersprechen.

Was ist heilsam?

In vielen Religionen gibt es Speise- und Fastenregeln, deren Ziel vorrangig eine Art kultische Reinheit ist, die aber auch in der menschlichen Urerfahrung des Missbrauchs und Übermaßes von Essen und Trinken (und der daraus folgenden Übel) wurzelt. Dem wird durch oft rigide Speise- und Genussmittel-Verbote entgegengewirkt. Auch das Christentum kennt natürlich Fastenzeiten; aber es mutet dem Menschen – im Vergleich zu anderen Religionen – ein sehr hohes Maß an Eigenverantwortung zu und baut auf seine Vernunft. Art und Genuss von Speisen sind nur dann verwerflich, wenn sie der Vernunftordnung widersprechen. 

Der Kirchenlehrer Thomas von Aquin formuliert es mit großer Klarheit so: „Bei keiner Speise ist also ihr Genuss an sich Sünde, insofern sie so und so beschaffen ist: sondern er kann Sünde sein, wenn jemand sie unvernünftig gegen sein Wohlergehen zu sich nimmt“[8]. Dieser erstaunliche Pragmatismus zeugt vom Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit des Menschen, der – solange er nicht schon einer Sucht oder Verblendung verfallen ist – sehr wohl weiß, was in diesem Zusammenhang gut für ihn ist.

In dem von Thomas von Aquin verwendeten Wort für Wohlergehen / Gesundheit (salus) klingt freilich über das Körperliche hinaus auch der spirituelle Aspekt, das (Seelen-) Heil an. Der Mensch als Einheit von Geist, Leib, Seele kann eben nicht heil und ganz sein, wenn ein Aspekt des Seins missbraucht und dadurch korrumpiert wird. Wer also von der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung abhängig wird, der verliert nicht nur die Kontrolle über seinen Körper und sein Verlangen, er vernachlässigt auch (und vergisst schließlich) seine Verantwortung für Andere, für seine Familie, seine Aufgabe im Leben[9] und schließlich auch für sich selbst, sein eigenes Wohlergehen, seine Bestimmung[10].

Ein praktischer Rat

Es gibt viele Alltagsregeln und Lebenshilfen[11] die nützlich sein können; und im Falle psychischer Krankheit geht man zum Arzt. Im Kern wurzelt aber das Laster der Völlerei – wie eigentlich jedes Suchtverhalten und jeder Verlust der Selbstkontrolle – im Schwinden der spirituellen Dimension des Lebens, im Verlust der rechten Balance bzw. der Mitte[12]. Im Neuen Testament gibt es eine Perikope, die in unübertrefflicher Weise zusammenfasst, worum es geht, nämlich den Bericht von der Versuchung Jesu in der Wüste: Nach langem Fasten tritt der Teufel an ihn heran und will ihn nötigen, seine göttliche Kraft dazu zu missbrauchen, sich Brot zu verschaffen und seinen Hunger zu stillen. Jesu entwaffnende Antwort an den Versucher bestimmt seit zweitausend Jahren das Leben aller Christen: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“[13]

Dieser Ausspruch Jesu steht quasi virtuell über jedem Esstisch in einem christlichen Haushalt; er ist auch die Grundlage für die sowohl spirituell als auch psychologisch hilfreiche und gesunde Sitte des Tischgebets. Wer also der Versuchung der Völlerei vorbeugen will, bei sich selbst, seiner Familie und seinen Freunden, dem ist anzuraten, auch in Gesellschaft wieder das Tischgebet zu sprechen,  egal ob laut oder im Stillen, jedenfalls aber erkennbar und im eigenen Heim ebenso wie zu Gast bei Anderen. Ein Mahl (ob Festmahl oder alltäglich) über das ernsthaft ein Tischgebet gesprochen wurde, wird niemals in Völlerei oder sinnloses Besäufnis ausarten. Haben wir den Mut, unserem Herzen zu folgen – oder zur vergessenen guten Gewohnheit zurückzukehren! Schnell wird unsere Umgebung das akzeptieren und zu würdigen wissen. Schließlich ist es nicht nur ein Zeichen für Frömmigkeit, sondern auch für gesundes Selbstbewusstsein und Kultiviertheit.


Anmerkungen

[1]Vgl. Beiträge zu diesen Lastern.

[2]Vgl. Beitrag zum Laster der Habsucht.

[3]Gula, ae, f. Schlund, Gurgel, auch Kehle.

[4]Zum Beispiel bzgl. Grausamkeit oder sexueller Zügellosigkeit.

[5]Was uns roh erscheint, hat freilich im Tierreich seinen Sinn. Aber wir sprechen bei Tieren nicht von einem „Handeln“, weil das eine höhere Geistestätigkeit voraussetzte.

[6]Siebtes Buch, erstes Kapitel. Nr. 1145a ff. Hier zitiert nach: Aristoteles. Philosophischen Schriften in sechs Bänden. Darmstadt 1995. Bd. 3. Nikomachische Ethik, S. 151. Orthographie ebd.

[7]Ebd. Z.19/20. Das klingt übrigens fast schon wie die kirchliche Definition des Standes der Heiligkeit (verwendet in Selig- bzw. Heiligsprechungsprozessen).

[8]Summa contra gentiles. Kap. 127: …potest esse peccatum si praeter rationem aliquis ipso utatur contra suam salutem.

[9]Vgl. Vortrag von Robert Barron: https://www.youtube.com/watch?v=wG4VF0jU568 Min. 55,40 ff.

[10]Jeder Mensch hat eine Bestimmung im Leben, nicht nur die Großen, Berühmten und Mächtigen, sondern jeder in seinem Leben, dessen Wert (vor Gott) dem der „Großen“ überhaupt nicht nachsteht.

[11]Im weiteren Sinne vgl. z.B. Jordan Peterson: Twelve Rules for Life. An Antidote to Chaos.

[12]Vgl. Bf. Robert Barron: https://www.youtube.com/watch?v=DNFj459farw&list=PLUQQgDYmxzab0H5o5YzcVLo9Bka8HxP0t&index=1

[13]Matth. 4, 4.