Über Herkunft, Bedeutung und Reichweite eines philosophisch-politischen Begriffs.[1]

III. Zwischen Kodifikation und Dekonstruktion – welche Zukunft haben die Menschenrechte?

Mit der Gründung der Vereinten Nationen hat sich in Sachen Menschenrechte etwas Grundlegendes geändert. Durch die im UNO-Rahmen erfolgte völkerrechtlich verbindliche Kodifizierung, weiter ausgeführt in den Menschenrechtspakten der UNO, wurde eine juristische Berufungsgrundlage geschaffen, die über das Deklaratorische und „nur“ moralisch Verpflichtende hinaus geht[2]. Gleich zu Beginn dieser neuen Epoche in der Geschichte der Menschenrechte trat aber auch die Frage der „Herkunft“ des Menschenrechtsbegriffs wieder hervor – und die nach ihrer universellen Gültigkeit, über die Grenzen von Kulturen, Religionen und Ideologien hinaus. Inzwischen sind noch andere Bedrohungen hinzugekommen.

Wie universell sind die Menschenrechte?

Schon bei der Annahme der UNO-Menschenrechtserklärung[3] gab es offiziell notifizierte Vorbehalte, z.B. gegen die Religionsfreiheit. Diese kamen vor allem von mehrheitlich islamisch geprägten Staaten, die sich gegen die „jüdisch-christlichen Wurzeln“ der Menschenrechtsdeklaration wandten. Mit der Zunahme der Zahl solcher Mitgliedsstaaten wurde diese Strömung seit den 1960er Jahren stärker. Zum Treiber der Entwicklung avancierte die Organisation Islamischer Staaten[4], deren Mitglieder im Jahre 1990 die sog. „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ verabschiedeten. Diese war als bewusster Gegenentwurf zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gedacht. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass generell – und auch explizit bei einzelnen Grundrechten – ein „Scharia-Vorbehalt“ eingebracht wurde. Das islamische „Scharia“-Recht wird als einzige verbindliche Rechtsquelle bezeichnet, der Islam als einzige „wahre Religion“.

Damit ist mehr geschehen als nur eine Art Inkulturation, mehr als eine Anpassung der allgemeinen Menschenrechte an ein besonderes kulturelles und religiöses Umfeld. Die OIC-Erklärung von 1990 ist im Grunde weniger eine eigene Menschenrechtsdeklaration, als eine Abwehr- und Ausnahmeregelung für einen bestimmten Kulturkreis; es ist gewissermaßen eine umfassende „Opt-Out“-Klausel und damit – trotz ihrer in der Praxis geringen Relevanz und trotz des weitgehenden Fehlens völkerrechtlichen Geltung – ein bedenklicher Präzedenzfall.

Kollektiv- versus Individual-Rechte?

Außer durch dieses Ausscheren einer kulturell und religiös definierten Staatengruppe wurde der universelle Charakter der UNO-Menschenrechtserklärung aber auch von anderer Seite relativiert. Während des Kalten Krieges spielten die Staaten des  kommunistischen Blocks mit Vorliebe die (völkerrechtlich ebenfalls garantierten) Rechte der Staaten gegen die individuellen Grundrechte aus;  ein Verfahren, das seit dem Ende des Kalten Krieges von diversen Staaten (überwiegend von Diktaturen unterschiedlichster Art) munter weiter betrieben wird.

Das Stichwort lautet „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“ – ein durchaus ehrbares Prinzip, dessen Beachtung die Menschheit vor dem Elend des Krieges und der Destabilisierung von legitimen Regierungen schützen soll. Leider wird es allzu oft missbräuchlich dazu verwendet, Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen abzuweisen und sich der Untersuchung durch unabhängige Prüfer zu entziehen.

Präzisierung …

Die kodifizierten Menschenrechte selbst unterliegen einer legitimen Weiterentwicklung, über den Bereich der politischen Freiheitsrechte und klassischen Bürgerrechte hinaus. In dem „Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“[5] ist dieser Gedanke längst Teil der internationalen Politik geworden. Er wurde 1966 zeitgleich mit dem „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“[6] vorgelegt. Beide Pakte haben für die Unterzeichnerstaaten den Charakter völkerrechtlicher Verträge. Die gemeinsame Verabschiedung unterstreicht implizit auch, dass es mit der Ausweitung des Rechte-Katalogs um eine Präzisierung und bessere Anwendung geht, nicht um „Konkurrenz“ zu den klassischen Freiheitsrechten.

… und Inflationierung?

Seit den 1970er Jahren wurde aber noch eine weitere Kategorie von Menschenrechten postuliert: Kollektivrechte von Gruppen, Ethnien, Völkern. Manchmal wird von einer „dritten Generation“ von Menschenrechten gesprochen, was ein nicht unproblematischer Begriff ist, weil die eigentliche, verbindende Grundlage der Menschenrechte in den Hintergrund zu treten scheint. Auch muss man sich fragen, was es für die Gültigkeit und Beachtung der Menschenrechte des Einzelnen bedeutet, wenn immer mehr auf kollektive Rechte, auf Gruppen und Schichten abgehoben wird. Kommt es dadurch zu einer Verbesserung des Menschenrechtsschutzes, oder zu einer Verwässerung?

Bedenken sind angebracht; aber bisher konnte doch ein kleinster gemeinsamer Nenner erhalten werden, in der Form der klassischen, unveräußerlichen Grundrechte, die zumindest deklaratorisch  unantastbar schienen. Diese Grundlage wird aber inzwischen zur Disposition gestellt. Die größte Gefahr für den universellen und umfassenden Menschenrechtsbegriff geht von einer radikalen Dekonstruktion von Werten aus. Und das ist Gift für die Akzeptanz der Menschenwürde und damit auch Gift für die Menschenrechte insgesamt.

Menschenrechte am Scheideweg

Die „Dekonstruktion“ der Menschenwürde setzt bei der endgültigen und radikalen Trennung von den christlichen Wurzeln an. Selten hat eine philosophische Wende und Umdeutung von Begriffen[7] so radikale Auswirkungen gehabt. Durch den Übergang zu einer willkürlichen Umdeutung des Menschseins wurde es möglich, sogar das Recht auf Leben zu relativieren. Mit tragischen Folgen. Worum geht es? Dazu ein aktuelles Beispiel.

Am 23. Juni 2021 nahm das Europäische Parlament einen Entschließungsantrag an, in dem unter anderem ein Menschenrecht auf Abtreibung gefordert wird. Die Passagen des Papiers unter der irreführenden Überschrift „Sexuelle und Reproduktive Rechte“ bedienen sich einer Sprache, die über frühere, noch verhüllende und euphemistische Formulierungen hinaus gehen. Das unter dem Namen „Matic-Bericht“[8] bekannte Dokument hat zwar keinerlei bindende Wirkung, da das Europaparlament in der Sache keine Entscheidungsbefugnis hat; diese liegt ausschließlich bei den nationalen Parlamenten der EU-Mitgliedsstaaten. Dennoch ist ein solcher Entschließungsantrag, trotz seiner fragwürdigen rechtlichen Grundlage, politisch schwerwiegend und durchaus wirksam. Und so kann es nicht verwundern, dass diese Forderung inzwischen sogar Eingang gefunden hat in europäische Präsidentschaftsprogramme.

Auch im Rahmen der UNO gibt es gleichgerichtete Bemühungen, die darauf abzielen, Abtreibung als Menschenrecht zu postulieren. Was lange Zeit mit euphemistischen Formeln umschrieben wurde, fast immer in Verbindung mit anderen, unproblematischen Forderungen, das hat sich mittlerweile verselbständigt und wird ganz offen gefordert. Für viele „Aktivisten“ in NGOs und internationalen Organisationen ist es geradezu zu einem Prüfstein ihrer Gesinnung und zu einer Art Bekenntnisakt geworden. Für die Verteidigung der Menschenwürde und der Menschen- und Bürgerrechte ist das freilich eine verheerende Entwicklung.

Perversion des Denkens

Die Aushöhlung des Menschenrechtsbegriffs durch die Postulierung eines „Rechts auf Abtreibung“ mag auf den ersten Blick randständig und wenig bedeutsam scheinen, ein Nischenthema… Und doch sind dadurch langfristig gesehen Akzeptanz und Glaubwürdigkeit der Menschenrechte insgesamt in Gefahr. Diese Entwicklung spaltet außerdem die Menschenrechtsverteidiger in einer Zeit, in der ein enger Zusammenschluss dringender denn je wäre.

Das Töten Ungeborener als „Menschenrecht“ zu fordern, zeugt letztlich von einer Perversion des Denkens. Wenn künftig nicht einmal mehr das Recht auf Leben eindeutig geschützt ist, was sind dann die immer detaillierteren Menschenrechtspakte am Ende wert? Täuschen wir uns nicht: Diese Entwicklung ist brandgefährlich, gefährlicher als regional und kulturell begrenzte Relativierungen der universellen Menschenrechte. Gefährlicher auch als das Ausspielen anderer Rechte gegen die Grundrechte.

Alle jene früheren Beeinträchtigungen des universellen Menschenrechtsbegriffs haben doch nie ganz den Boden des gemeinsamen Rechtsdenkens verlassen, diesem zumindest noch Lippenbekenntnisse gezollt. Mit einem kodifizierten Recht auf Tötung wäre diese Grundlage definitiv und unwiederbringlich verlassen. Von diesem scheinbaren Randthema geht eine – im wahrsten Sinne des Wortes – tödliche Bedrohung für die Menschenrechte aus. Setzt sich dieses Denken durch, dann sieht es düster aus für die Zukunft der Menschenrechte.


[1]Der Text ist die überarbeitete Fassung eines am 17.11.2021 vor der Kobe Gakuin Universität (Japan) gehaltenen Vortrags.

[2] In der Wirkung ist das nur noch zu vergleichen mit der in den letzten Jahrzehnten gewachsenen globalen Rolle von Nichtregierungsorganisationen.

[3] https://unric.org/de/allgemeine-erklaerung-menschenrechte/

[4] Ursprünglich „Organization of Islamic Conference“, OIC https://en.wikipedia.org/wiki/Organisation_of_Islamic_Cooperation

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Pakt_%C3%BCber_wirtschaftliche,_soziale_und_kulturelle_Rechte

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Pakt_%C3%BCber_b%C3%BCrgerliche_und_politische_Rechte

[7] Zur geistesgeschichtlichen Grundlage sehr erhellend Robert Barron: 
https://www.wordonfire.org/videos/wordonfire-show/episode256/

[8]  https://aerzte-fuer-das-leben.de/neues/aktuell-2021/24-06-21-matic-bericht-eu-parlament-angenommen/

https://www.europarl.europa.eu/news/de/agenda/briefing/2021-06-23/6/allgemeiner-zugang-zu-sexueller-und-reproduktiver-gesundheit-in-der-eu