Die zweite Vaterunserbitte wirkt auf den ersten skeptischen Blick fast ein wenig suspekt, denn was wir mit den diversen „Reichen“ der Weltgeschichte assoziieren, ist selten positiv und sicher nicht auf unserem persönlichen Wunschzettel zu finden.

Und selbst wenn wir uns erinnern, dass im Neuen Testament oft vom „Kommen des Reiches Gottes“ die Rede ist, gerade aus dem Munde Jesu selbst, müssen wir doch ehrlicherweise zugeben, dass wir nicht immer so recht zu sagen wissen, was damit genau gemeint ist.

Es ist in diesem Zusammenhang hilfreich zu wissen, dass das Wort „Reich“ im griechischen Originaltext des Neuen Testaments – ebenso wie im Aramäischen, der Sprache die Jesus sprach (1) – ein sog. „nomen actionis“ ist, ein Substantiv, das etwas Aktives, Dynamisches, nicht etwas Statisches Monolithisches ausdrückt; man könnte es hier mit „das Herrschen“ Gottes übersetzen.

Aber ist es nicht ohnehin klar, dass Gott herrscht? 

Wenn er doch alles geschaffen hat und sowieso allmächtig ist, wieso muss dann sein Herrschen noch herbeigebetet werden? Es geht ja hier offensichtlich nicht nur darum, in einem Akt der Unterwerfung das unveränderliche Faktum der Gottesherrschaft anzuerkennen, wie etwa im Islam (2). Wir beten doch gerade um das Kommen des Reiches …

In der zweiten Vaterunser-Bitte klingt für mich immer ein wenig Sehnsucht mit: Sehnsucht nach der vollständigen Realisierung des Seins, so wie es Gott gewollt hat, nach Erfüllung, ohne Leid, Bosheit und Verwirrung (3). 

Das genaue Gegenteil dessen also, was in so vielen irdischen „Reichen“ realisiert wurde, und auch das Gegenteil diverser Formen von „Herrschaft“ durch Egoismus, Sucht, Hass, Gewalt, Lieblosigkeit. Letztere zählen zu den vielfältigen Herrschaftsformen, denen wir alle unterworfen sind, auch wenn wir in demokratischen Gesellschaften leben. 

Wir bleiben Zwängen unterworfen und Ansprüchen ausgesetzt, die uns dazu bringen, ständig an Gelingen und Scheitern, Erfolg und Niederlage zu denken. Wir leben immer unter irgendeiner Menschenherrschaft; früher gab sie sich oft streng und paternalistisch, heute herrschen subtilere Mittel.

Was ist dagegen das Reich Gottes?

Nach Romano Guardini (4) ist es „der Inhalt des Wirkens Jesu“. Damit erkennen wir immerhin schon einmal, dass im Vaterunser auch der Sohn enthalten ist (5). Und wir können ausschließen, dass es um eine „Herrschaftsstruktur“ geht, womöglich eine Art „Gottesstaat“ von dem heutzutage in den Medien immer wieder zu hören und zu lesen ist.

Wenn das Reich Gottes der eigentliche Inhalt der Predigt Jesu war, sozusagen der rote Faden in seiner Lehre, in seinem ganzen irdischen Wirken von der Berufung der Jünger über die Bergpredigt und seine Streitgespräche mit den Schriftgelehrten bis zu den Gleichnissen und Wundern, dann ist das in der Tat etwas, das man sich nur wünschen kann!

Man kann es noch schöner sagen: Jesus Christus ist „das Reich Gottes in Person“ (6).

Wenn ich einen Wunsch zu einer Zeitreise frei hätte, würde ich mir definitiv wünschen, einmal unter seinen Zuhörern sitzen zu dürfen. Ersatzweise bete ich mit Freude die zweite Vaterunserbitte …


Anmerkungen

1) Aramäisch, eine dem Hebräischen nahe verwandte semitische Sprache, war damals nicht nur Umgangssprache in Israel, sondern in der gesamten Region verbreitet. Das Hebräische war Kultsprache und dem Volk aus der Schriftlektüre in der Synagoge vertraut.

2) „Islam“ bedeutet Unterwerfung, unter den Willen Gottes.

3) Kurz gesagt: Ohne die Sünde.

4) R. Guardini: Der Herr, Ausgabe Paderborn 2007, S. 41.

5) Wir beten eigentlich immer „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“.

6) Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Bd. 1. S. 181.