Womöglich haben wir sie alle: eine Liste von „Vergehen“ unserer Mitmenschen uns gegenüber. Bei manchen ist sie so lang wie die Einkaufsliste einer Großfamilie am Wochenende. Aber anders als bei Einkaufslisten, die wir zuhause haben liegen lassen, vergessen wir nichts von den Fehlern unserer Umgebung!
Der befreiende Weg des Verzeihens
Wenn wir nicht ständig daran arbeiten, diese Listen immer wieder zu löschen, wenn wir nicht versuchen zu verzeihen, brodelt diese Liste wie ein mehr oder weniger großer Vulkan in uns, der nur darauf wartet, dass die kleinste neuerliche Erschütterung, die heiße Lava nach draußen schleudert. Das Gefühl kennt wohl jeder, diese Versuchung, seinem Gegenüber auch noch die Vergehen der letzten 3dreiJahre an den Kopf zu werfen. Wie kommen wir davon los?
Der Schlüssel heißt tatsächlich „Verzeihen“. Jemandem verzeihen ist etwas ganz Anderes als etwas zu „ent-schuldigen“. Wir können niemandem die Schuld „entfernen“, ihn lossprechen von seiner Schuld. Das kann nur ein Priester in der Beichte. Die Schuld des anderen mir gegenüber bleibt für mich präsent, die Vergangenheit können wir nicht ungeschehen machen.
Diese Schuld des anderen kann mich sehr verletzt haben, und hier beginnt Verzeihung. Um jemandem verzeihen zu können, muss ich ihm streng genommen nicht einmal gegenüberstehen und es ihm mitteilen. Manchmal ist das auch gar nicht mehr möglich, wenn etwa die Person weggezogen ist und wir uns nicht mehr treffen oder gar nicht mehr miteinander sprechen; und auch wenn die Person bereits verstorben ist.
Wenn es bei einer Entschuldigung einen Sprecher und einen Empfänger geben muss, der die Entschuldigung auch hört, so reicht beim Verzeihen der innere Vollzug. Manchmal kann es hilfreich sein, dieses zu Papier zu bringen, z. B. in Form eines Briefes, der aber gar nicht abgeschickt werden muss. Er hilft uns lediglich unsere Gedanken und Gefühle zu sortieren.
Aber wie geschieht nun diese innerliche Arbeit des Verzeihens?
- Wir sollten uns vor Augen führen, was genau passiert ist. In der Regel werden wir feststellen, dass beide Seiten Anteile an einem Streit/an der Verletzung haben. Diese Anteile können ungleich verteilt sein, aber selten ist einer ganz unschuldig am Hergang einer Auseinandersetzung.
- Wenn wir unseren Anteil erkannt haben, sollten wir versuchen, unsere Schuld anzuerkennen. Das ist oft gar nicht so leicht, sich nicht in Erklärungen und „Ent-schuldigungen“ zu flüchten.
- Wir müssen lernen, uns unsere Fehler selbst zu verzeihen (was nicht ausschließt, dass wir bei großen Fehlern zur Beichte gehen sollten). Sich selbst zu verzeihen, ist oft fast schwieriger als anderen ihre Fehler nachzusehen.
- Wenn wir nun erkannt haben, dass auch wir Fehler haben und machen, fällt es uns leichter, mit den Fehlern anderer umzugehen. Wir können entscheiden, ob wir uns durch die Aussagen der/des anderen verletzen lassen wollen. Immer wieder alte Themen hochzukochen, trifft nicht nur den anderen, sondern verletzt uns immer auch selbst! Es bringt nicht die erhoffte Erleichterung oder den inneren Frieden. Es stellt sich ein Scheinfriede ein, der nur so lange hält, bis die nächste Gelegenheit kommt, das Thema erneut auf den Tisch zu bringen. Hier hilft es, einmal laut auszusprechen (oder einmal aufzuschreiben), was Sie dem anderen verzeihen wollen und den Entschluss zu fassen, diese Geschichte ab jetzt ruhen zu lassen.
- Beim nächsten Streit kann es passieren, dass Ihnen das alte Thema doch wieder auf der Zunge liegt. Üben Sie sich daher im Schweigen. Üben können Sie das immer schon zwischendurch: verkneifen Sie sich doch zu Übungszwecken mal einen kleinen Witz; oder schon eine bissige Bemerkung; die Anekdote, die Sie immer an einer bestimmten Stelle erzählen (und die eigentlich keiner mehr hören möchte), etc.
Mit dem Verzeihen-Können stellt sich in der Regel und mit der Zeit Ruhe und innerer Frieden ein. Sollte dies jedoch auch mit regelmäßigem Bemühen nicht gelingen, sollten Sie mit einem guten Freund oder einer Freundin dieses konkrete Thema besprechen, um auch einen neutralen Blick von außen zu bekommen, der Ihnen dann weiterhilft.