Es sind erschütternde Schicksale vernachlässigter, wehrloser Kleinstkinder, die der Erfurter Erziehungswissenschaftler Florian von Rosenberg in seinem Werk „Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen“ (erschienen 2022 bei C.H.-Beck) darstellt. So etwa den Tod des kleinen Michael, der erstickte, weil sich ein Lederriemen um seinen Hals zuzog, mit dem er über Nacht an seinem Bett angegurtet war. Oder den Todesfall des behinderten vietnamesischen Jungen Dan Ngyen, der in einem Säuglingsdauerheim kollabierte, weil er eine Überdosis von Beruhigungsmedikamenten verabreicht bekam.

Rosenberg analysiert diese Todesfälle (zusammen mit vielen anderen Kinderschicksalen) anhand amtlicher Dokumente der DDR. Auffallend an den Dokumentationen ist die Selbstverständlichkeit, mit denen die Praktiken der Fixierung und medikamentösen Sedierung von Kindern behandelt wurden. So ging es bei der amtlichen Untersuchung zum Tod von Dan Ngyen nur darum, dass man sich mit der Menge verkalkuliert hat. Die Verabreichung von Beruhigungsmitteln an sich wurde nicht in Frage gestellt. Im Fall des kleinen Michael ging es nur darum, wie der Lederriemen eingesetzt werden soll, um zukünftige Unfälle zu vermeiden. Die Fixierung an sich wurde als notwendig angesehen, da in den Wochenkrippen eine Nachtwache 30, 40 oder sogar 50 schlafende Kinder zu beaufsichtigen hatte. An den Todesfällen zeigt sich so exemplarisch die Inhumanität eines Kinderbetreuungssystems, in dem viele Kinder auch über die Nacht, getrennt von ihren Eltern, in Einrichtungen verblieben.

In den DDR-Wochenkrippen wurden die Kinder am Montagmorgen abgegeben und blieben dort bis zum Samstag oder zumindest bis zum Freitagnachmittag. In dieser Form der ganzwöchigen Kinderbetreuung auch über Nacht lösten sich die Beziehungen der Kinder zu ihren Eltern. Schilderungen zeigen, dass Kinder, die in solchen Einrichtungen waren, ihre Eltern an den Wochenenden wie Fremde wahrgenommen haben.

Noch schlimmer erging es Kindern in Säuglingsdauerheimen. Hier waren alle Kinder dauerhaft von ihren Eltern getrennt, weil z. B. das Kindeswohl gefährdet war oder weil die Eltern inhaftiert waren. Auch für das Personal war die Situation sehr belastend. Die Fluktuation war deshalb hoch. Dies verschlimmerte die Lage zusätzlich, denn so war auch der Aufbau von Ersatzbindungen zu den Erziehern extrem erschwert. Säuglingsdauerheim wie Wochenkrippe sind mit tragischen Schicksalen verbunden. Einen Einblick hierzu gibt die ARD-Dokumentation „Die Tränen der Kinder. Wochenkrippen in der DDR“.

Auch die Tageskrippen waren „nicht unproblematisch“, wie von Rosenberg im Interview mit der „Tagespost“ feststellt. Die Abgabe der Kinder in die Krippen beschrieben DDR-Forscher als einen Schock, der sich auf die Gesundheit der Kinder, ihr Gewichts- und Längenwachstum, ihre Psyche und kognitive Entwicklung negativ auswirkte. Sie verglichen, wie sich Kinder in Familien, Tageskrippen, Wochenkrippen und Säuglingsdauerheimen entwickelten. Dabei zeigte sich ein klares Muster: „Die Tageskrippenkinder schnitten in diesen Tests schlechter ab als die Familienkinder. Die Wochenkrippenkinder schlechter als die Tageskrippenkinder und am Schlechtesten waren die Ergebnisse der Kinder in den Säuglingsdauerheimen. Man kann also sagen, je weniger Zeit die Kinder in den Familien verbrachten, desto schlechter waren ihre Entwicklungswerte“. Wie von Rosenberg darstellt, galt dies nicht nur für die physische und psychische Gesundheit, sondern auch für die kognitive und sprachliche Entwicklung.

Eine öffentliche Diskussion dieser Erkenntnisse wurde von der DDR-Führung strikt unterbunden. Forschungsarbeiten mussten unveröffentlicht bleiben oder umgeschrieben werden. Zweiflern und Skeptikern wurde klar gemacht, dass jede Kritik an den Krippen als Angriff auf die sozialistische Frauenpolitik angesehen wurde. Sogar das Problem des „Hospitalismus“ war seit den 1960er Jahren tabu. Wie alle Erkenntnisse der Bindungsforschung galt das Problem als eine Erfindung der „bürgerlichen Psychologie“ und damit des Klassenfeindes, der allein darauf aus sei, den Sozialismus zu diskreditieren. 

Oberste Priorität war die rasche Eingliederung der Mütter in die Arbeitsprozesse. Der Wochenurlaub für Mütter war 1945 (also noch in der Sowjetischen Besatzungszone) auf sechs Wochen verkürzt worden. Kinderärzte forderten Ende der 1950er Jahre, diesen Wochenurlaub auf drei Monate zu verlängern, um Müttern mehr Zeit zum Stillen zu geben. Anlass dazu gaben schwere Ernährungsstörungen, an denen viele Säuglinge starben. (Der Übergang zu künstlicher Säuglingsnahrung war damals schwieriger als heute). Trotzdem lehnte die DDR-Führung einen längeren Wochenurlaub ab.

In der Tschechoslowakei (ČSSR) wurde der Wochenurlaub auf drei Monate verlängert. Zu Beginn der 1960er Jahren starben in diesem sozialistischen „Bruderland“ fünfmal weniger Säuglinge an Magen-Darmerkrankungen. Von Rosenberg schließt daraus, dass die DDR für die Gewinnung (weiblicher) Arbeitskräfte den Tod von Säuglingen „billigend in Kauf“ nahm.

Der Vorrang der Frauenerwerbstätigkeit vor dem Kindeswohl war nicht bloß wirtschaftlich, im Mangel an Arbeitskräften begründet. Vielmehr war die DDR-Führung überzeugt von ihrer marxistisch-leninistisch begründeten Mission, die (deutschen) Frauen zu befreien. So verkündete eine für den Krippenausbau zuständige Funktionärin, dass mit der Gründung der DDR „endlich auch im Leben der deutschen Frau die Wende eingetreten“ sei, „die für die sowjetische Frau schon die Oktoberrevolution 1917 brachte“. Krippen galten ihr als unerlässlich, um „die Frau zu befreien, ihre Ungleichheit gegenüber dem Manne […] zu verringern und aus der Welt zu schaffen“. Bis heute wird die DDR-Kinderbetreuungspolitik aus unter dem Aspekt der Frauengleichstellung betrachtet. Aus dieser Perspektive gilt sie noch immer vielen als eine „Errungenschaft“ der DDR und geradezu vorbildlich (für Westdeutschland).

Die Schattenseiten des DDR-Betreuungssystems für Kinder zu thematisieren, ist noch immer schwierig. So wird Rosenberg unterstellt, dass er als Westdeutscher den Ostdeutschen erklären wolle, dass „mit ihnen etwas nicht stimmt und die Krippen daran schuld sind“. Aber gerade darum geht es in seiner Forschung gar nicht. Vielmehr leistet er eine zeithistorische Dokumentation dessen, was man im DDR-Staatsapparat über die Probleme der Kleinstkinder in Krippen wusste, aber öffentlich nicht sagen durfte.

Was aus den Krippenkindern wurde, welche Folgen ihre „beschädigte Kindheit“, ist noch gar nicht Gegenstand seiner Aufarbeitung der DDR-Dokumente. Die medizinisch-psychologische Erforschung der Lebensschicksale von Wochenkrippenkindern steht noch ganz am Anfang. Erkenntnisse hierzu sind von dem Forschungsprojekt „Bindung und seelische Gesundheit ehemaliger Wochenkrippenkinder“ zu erwarten, das 2022 an der Universitätsklinik Rostock begonnen wurde. Der aktuelle Erkenntnisstand wird bei einem Symposium zur „wochenweisen Fremdbetreuung von Säuglingen und Kleinkindern und ihrer Folgen“ am 21-23. April diskutiert werden. Es ist zu hoffen, dass diese verdienstvollen Bemühungen zur Aufklärung der systemischen Kindesmisshandlung im SED-Staat auch von den Medien beachtet werden, die in anderen Fällen (zu Recht) mit Vehemenz „historische Aufarbeitung“ fordern.

Florian von Rosenberg: Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen, C.H.-Beck 2022.

Hierzu: Pädagogik-Professor: DDR war nicht familienfreundlich

Zur ARD-Dokumentation: Die Tränen der Kinder. Wochenkrippen in der DDR 

Zum Symposium vom 21.-23. April 2023: Wochenweise Fremdbetreuung im frühen Kindesalter – Erfahrungen aus der DDR und internationale Perspektiven

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