Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir! Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes Jesus, den Du, o Jungfrau, im Tempel wiedergefunden hast.

Das fünfte und letzte „Gesätz“ des freudenreichen Rosenkranzes bezieht sich auf die einzige Episode aus der weiteren Kindheit bzw. Jugend Jesu, die im Evangelium überliefert[1] ist: Der zwölfjährige Jesus begleitet Maria und Joseph auf der Wallfahrt zum Paschafest nach Jerusalem[2]. Die Evangelien sind aus gutem Grund sehr sparsam mit Erzählungen aus der Kindheit und den vielen stillen Jahren Jesu in Nazareth, vor seinem öffentlichen Wirken. Aber diese eine Geschichte ist so erhellend, dass sie ihren rechtmäßigen Platz im Neuen Testament hat, zeigt sie doch schlaglichtartig auf, dass der Sohn ganz Mensch und ganz Gott ist: Schon als Kind vermag Jesus mit den Schriftgelehrten zu diskutieren und setzt alle in Erstaunen; und im Tempel ist er „in dem was seines Vaters ist“. Danach kehrt er jedoch mit Maria und Joseph ins Alltagsleben nach Nazareth zurück und ist ihnen gehorsam.

Wir können aber vor allem mit Maria und Joseph mitfühlen, ihre quälende Sorge mitempfinden, als sie den Jungen nicht bei den Verwandten im Pilgerquartier finden: Der größtmögliche Schrecken für alle Eltern, das Verschwinden des geliebten Kindes, die verzweifelte Suche nach ihm, das Nichtverstehen, die bohrende Angst… Und dann die Erlösung! Das Auffinden des Kindes, bezeichnenderweise im Tempel… Und genau auf diesen Moment zielt ja diese Meditation: auf das Wiederfinden, das ans Ziel kommen, die Befreiung aus Angst und aus Qualen. Darauf, mehr als auf die theologische Tiefenstruktur der Perikope, weist dieses Rosenkranzgeheimnis. Und das macht es freundenreich, erlösend, befreiend!

Es lohnt sich – wie Maria[3] – über dieses ungewöhnliche Geschehnis nachzudenken; und es ist auch ungemein tröstlich zu wissen, dass selbst Maria und Joseph nicht alles gleich verstehen konnten[4]. Das kann unseren Glauben stärken. Nehmen wir also unsere eigenen Sorgen mit in das Gebet: die Sorge um die eigenen Kinder, oder die unserer Verwandten und Freunde, egal ob klein oder erwachsen. Oder auch Trennungen und Trennungsängste die wir erleben. Das Bangen um die Entwicklung unserer Kinder, ihren Erfolg im Leben und besonders ihr Wachsen und ihr Bleiben im Glauben. Dieses Gebet kann unsere Zuversicht stärken, dass wir mit unseren Kindern im Glauben vereint bleiben – oder wieder zusammenfinden, selbst wenn wir durch stürmische Zeiten und schwierige Phasen gehen.


[1]Lk. 2, 41-52

[2]Vorschrift war das erst ab dem vollendeten dreizehnten Lebensjahr. Es zeigt sich wieder, dass die Heilige Familie fromm war und dem Gesetz und der Tradition gehorsam lebte, sogar über das streng Vorgeschriebene hinaus. Vgl. Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Prolog. Die Kindheitsgeschichten. S. 129-135.

[3]Hier (v. 51), wie schon beim Besuch der Hirten nach der Geburt Jesu (v. 19), heißt es, dass Maria die Geschehnisse „in ihrem Herzen bewahrte“. Auch ein Zeichen unerschütterlichen Gottvertrauens.

[4]Lk. 2, 50.