In der abschließenden Bitte des Vaterunser kommt eigentlich alles zusammen, was Menschen erbitten können, und mit dem Verb „erlösen“ steht hier der zentrale Begriff des christlichen Glaubens überhaupt. Dabei geht es in erster Linie um das moralisch Böse – das Böse, das uns bedroht, das uns widerfährt, das aber auch durch unser Verschulden, Mitwirken oder Unterlassen geschieht. Wir beten aber auch um Befreiung von allen anderen Übeln, die uns das Leben schwer machen und wegen derer wir immer mit einem Risikogefühl leben und in der Gefahr des Leidens stehen. Ein frühchristlicher Märtyrer hat es auf zeitlose Weise formuliert: „ Wenn wir sagen ‚erlöse uns vom Bösen‘, dann bleibt nichts, was wir darüber hinaus noch zu bitten hätten“ (1).

Menschen in Not muss man nicht erklären, was das Böse ist

Menschen in Not muss man nicht erklären, was das Böse ist, von dem sie erlöst werden könnten. Aber ich bin sicher, dass auch gesunde, glückliche, wohlhabende Menschen mit besten Zukunftsaussichten genau verstehen, worum es geht. Warum? Weil Böses in unterschiedlichsten Formen in jedem menschlichen Lebensumfeld fast ständig präsent ist; nicht nur die Zeitungen sind voll davon, sondern wir alle rechnen – auch in den sichersten und friedlichsten Gemeinwesen – wie selbstverständlich immer damit, dass es Böses gibt; nur haben wir uns daran gewöhnt (2), irgendwie damit arrangiert, mehr oder weniger…

Wenn wir das Haus verlassen, schließen wir es sorgsam ab; wenn Kinder (und nicht nur Kinder) abends allein unterwegs sind, machen sich Eltern und Freunde Sorgen, wenn sie nur ein paar Minuten verspätet sind. Auch in geordneten, friedlichen Gesellschaften gibt es Gewalt und Verbrechen, und sogar unter besten Freunden und in glücklichen Familien kommen Streit und Missgunst vor. Und auch wenn „das Böse“ (3) im moralischen Sinne nicht in Erscheinung tritt, gibt es „Übel“, Leid und Not. Das gehört zu dem, was man in der Philosophie als grundlegende menschliche Befindlichkeit (conditio humana) kennt (4).

Erlösung aus eigener Kraft?

Die Antworten der antiken Philosophen auf die unleugbare ständige Gefährdung des Menschen durch das Böse waren sehr verschieden; wir finden sie – z.T. in banalisierter Form – auch heute noch: Da gibt es die hedonistische Reaktion, nach der man so viel an sich reißen und so viel Vergnügen suchen soll, wie man kann, heute als „yolo“- Prinzip („you only live once“) präsent. Etwas erhabener wirkt da der Stoizismus, den viele bewusste und unbewusste Agnostiker verehren, denn alles sei doch irgendwie Zufall, man könne ja doch nichts ändern und mache deshalb das Beste daraus… Auch der (im Westen ebenfalls in banalisierter Form beliebt gewordene) Buddhismus scheint etwas Ähnliches anzubieten, das Loslösen vom Materiellen und vom Leid, das Verdrängen eigentlich, verbunden mit der zweifelhaften Hoffnung auf die eigene Auflösung. Vielfach gilt auch noch eine Art Existenzialismus als schick, wobei man, nicht ohne Koketterie, vorgibt, mit Endlichkeit und Sinnlosigkeit allein gut genug klar zu kommen.

Allen diesen Ansätzen ist gemein, dass man sowohl das moralisch Böse, als auch die materiellen Übel ausblendet, resignierend oder gleichgültig hinnimmt, und dabei der wenig überzeugenden Annahme folgt, man könne sich aus eigener Kraft schon irgendwie damit arrangieren.

NEIN zur Relativierung des Bösen

Auf eine ganz andere Realität verweist uns Jesus mit der siebten Bitte des Vaterunser: Nicht Relativierung des Bösen, „Sünden-Management“ und Verdrängung sind der Ausweg, sondern wirkliche Erlösung; und die können wir von Gott erbitten. Erlösung heißt nicht nur folgenloses „Aufhören“ des Bösen und endliches Vergessen, sondern umfassende Heilung und Versöhnung – und das wirkt schon hier und jetzt in unser Leben, kommt nicht erst am jüngsten Tag. Man kann das gefahrlos ausprobieren, zum Anfang einfach mal wieder das Vaterunser beten…

Die Kirche hat die umfassende Erlösung vom Bösen, um die wir in der siebten Vaterunserbitte beten, in der Feier der Heiligen Messe noch in einem eigenen Gebet aufgegriffen, das an diese letzte Bitte angeschlossen wird (5): „Erlöse uns Herr, allmächtiger Vater, von allem Bösen und gib Frieden in unseren Tagen. Komm uns zu Hilfe mit Deinem Erbarmen und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde, damit wir voll Zuversicht das Kommen unseres Erlösers Jesus Christus erwarten“.

Das Vaterunser endet mit der Bitte um Erlösung vom Bösen und vom Leid in allen Formen; darin liegen Trost und Hoffnung gegen alle Gefahren, Ängste und Qualen, denen Menschen ausgesetzt sein können, und damit stärkt das Gebet des Herrn schon seit zweitausend Jahren Christen auf der ganzen Welt.


Bei seinem Konzert in der Salvatorbasilika in Prüm brachte der Dresdener Kreuzchor auch eine Motette des Kreuzkantors Oskar Wermann (1840 – 1906) mit. Bei diesem doppelchörigen „Vater unser“ hatte Kreuzkantor Kreile den zweiten Chor unter der Orgelbühne postiert.

Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Wir sind es gewöhnt, das Vaterunser mit diesem Satz abzuschließen, der zwar nicht Teil des von Jesus stammenden Gebets ist, aber seinen Anfang in Form eines Gotteslobs noch einmal aufgreift: Da kommt das „Reich“ wieder vor, und mit „Kraft“ und „Herrlichkeit“ bekennen wir erneut Gottes Allmacht und Herrschaft. Die Worte mögen im Alltagsgebrauch selten sein, vielleicht befremdlich klingen, aber sie bekräftigen, ebenso wie das abschließende „Amen“, alle unsere Bitten und Anliegen, sind zugleich Ausdruck von Vertrauen und Demut: Gott kann und wird mich hören, und wenn auch nicht alles nach meinen Wünschen geht, wird doch alles gut werden…

Es gibt natürlich viele Arten von Gebeten – liturgische, die vor allem im Gottesdienst vorkommen, gemeinsam in der Familie gesprochene (z.B. Tischgebete, Nachtgebete), solche, die im Stillen allein, oder in Gemeinschaft laut gesprochen werden. Es gibt Bitt- und Dankgebete, meditative Gebete oder Stoßgebete, Fürbitten und Schuldbekenntnisse, auch Anrufungen der Gottesmutter oder der Heiligen um ihre Fürsprache bei Gott. Aber wenn einem das alles fremd oder unbekannt ist, peinlich oder gar suspekt (aus welchen Gründen auch immer), reicht es erst einmal völlig aus, sich auf das Vaterunser zu konzentrieren.

Das Gute am Vaterunser ist, dass man damit eigentlich alles gesagt hat. Vielen Menschen fällt es heute schwer, wieder zu beten, weil sie es außerhalb des Gottesdienstes kaum mehr gewöhnt sind (und der Kirchgang auch nicht mehr so regelmäßig ist…). Es ist verständlich, dass sie sich fragen: Was soll ich denn beten? Will Gott das überhaupt hören?

Ich denke, dass das der perfekte Moment für ein Vaterunser ist.

Der geniale Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (6) hat einmal einem Freund, der seinen Glauben verloren hatte und nicht recht wusste, ob und wie er wieder damit anfangen könnte, den guten Rat gegeben, einfach die religiösen Gewohnheiten seiner Kindheit wieder aufzunehmen. Er versuchte zudem, mit dem Gedankenexperiment einer „Wette“ seine agnostischen und atheistischen Zeitgenossen davon zu überzeugen, dass man mit dem Glauben alles gewinnen, aber nichts verlieren kann, weshalb es sich in jedem Fall lohne, einmal den Versuch zu machen.

Auf unsere Zeit übertragen, würde ich dazu raten, mit dem Vaterunser anzufangen, das kann man garantiert ohne Risiken und Nebenwirkungen beten.

Warum sich gerade dieses Gebet dazu so gut eignet? Weil es alles Menschliche enthält und alles, was das Verhältnis vom Mensch und Gott betrifft – und vor allem, weil es nachweislich von Jesus selbst stammt.


Anmerkungen

1 Bischof Cyprian von Karthago, zitiert bei J. Ratzinger/Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Bd. 1, a.a.O. S. 201 f.

2 Unseren kleinen Kindern können wir vieles von dem, was zu unserer Welt gehört, nur schonend beibringen, nach und nach. Der Begriff „unschuldige Kinder“ impliziert, dass eher Schuld das „Normale“ ist und unser Erwachsensein kennzeichnet.

3 Das Wort „ponärós“ im altgriechischen Urtext des Neuen Testaments bezeichnet „das Böse“ im moralischen Sinne – und auch „den Bösen“ (den Teufel) –, sowie ebenfalls das „Übel“ durch Unglücke und Krankheiten, es kann sogar „krank“ bedeuten (vgl. W. Bauer, Griechisch-Deutsches Wörterbuch zum Neuen Testament, Berlin/New York 1971, Sp. 1370f.). Nur im attischen Griechisch waren beide Begriffe wohl durch unterschiedliche Akzentsetzung unterschieden: „ponärós“ bezeichnete das Böse, „pónäros“, das Übel im Sinne von Krankheit etc. Vgl. Menge, Großwörterbuch Griechisch-Deutsch, Berlin/München/Zürich 22. Aufl. 1973, S. 571 f.

4 In der Lehre der Kirche gibt es dafür den nur scheinbar unzeitgemäßen Ausdruck „Erbsünde“, der genau diese Verwobenheit – auch der besten und gütigsten Menschen – in ein Gewebe aus Gefährdungen, Scheitern und Schuld beschreibt. Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Artikel 8.

5 Genannt „Embolismus“, also Einschub zwischen der letzten Vaterunserbitte und dem abschließenden Gotteslob („denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit“).

Vgl. hierzu J. Ratzinger/Benedikt XVI., a.a.O. S. 202 f.

6 Französischer Denker des 17. Jahrhunderts (1623-1662).