Die Liebe zur Wahrheit führt zu den verschiedensten Daseinsöffnungen: zum Studium und zum Experiment, zur stillen Beschaulichkeit und zu der so sehr gepriesenen Aufrichtigkeit. Diese Aufrichtigkeit, die in der Offenheit ihren gefühlsmäßigen Ausdruck findet, manifestiert sich in einer Art Natürlichkeit des Geistes, in jugendlicher Frische und Durchsichtigkeit. Da ist kein Platz für Phrasen und Schnörkel, Wendungen und Ausflüchte der Politik, und auch nicht für die Kränklichkeit des Narziß, dessen Gesicht – wie Shakespeare sagte – von der Blässe der eigensüchtigen Gedanken überzogen ist.

Eine von der Jugend geschätzte Tugend

Es geht um die Spontaneität jener Menschen, die im Vertrauen wandeln, die in der wolkenlosen Luft einer gesunden Familie aufwachsen, die sich ohne Angst oder Traurigkeit ständig der Tatsache bewusst sind, dass sie auf dem Weg sind, in der Kindheit, in den Geburtswehen des wahren Lebens zu leben. Weise und Heilige sehnen sich stets nach dieser Reinheit, die nie ganz vollkommen ist, nach dieser Ursprünglichkeit, die immer noch verletzt, nach dieser Einfalt, die schon wieder verkümmert ist.

Der Drang zur Offenheit und Sozialität, der sich nicht nur in der Politik äußert, sondern auch in den kollektiven Vergnügungen des Sports, der Kunstveranstaltungen und des Tanzes seinen Ausdruck findet, die Ausbreitung einer Psychologie der Selbstbefreiung, die Tatsachen des Pluralismus, des Ökumenismus und etwa auch der Volksliturgie haben den sogenannten „gesellschaftlichen“ Tugenden neuen Glanz verliehen und sie vor aller Augen aufgewertet. Die Jugend treibt geradezu einen Kult mit der Aufrichtigkeit, der wahrhaftig – nach der „bürgerlichen“, nicht selten heuchlerischen „viktorianischen Moral“ der älteren Generationen – einen großen Gewinn bedeutet.

Nicht nur Lüge, Schmeichelei und Pharisäismus werden verabscheut; die jungen Menschen beiderlei Geschlechts lehnen die von allzu vielen Moralisten nach der Reformation bewilligten „verhüllenden Redensarten“ spontan und heftig ab. Die Aufrichtigkeit ist – in einem Klima der Hemmungslosigkeit – zu einer modernen Tugend erklärt worden.

Tatsächlich verrät jede Kompliziertheit menschlicher Äußerungen ein krankhaftes Beschützen des allzu empfindlichen, in sich verliebten Ich, eine starre Suche nach Sicherheit, die sich in manierliche Formen kleidet oder die in pedantische Genauigkeit eingemauert wird. Die Aufrichtigkeit erscheint im Gegensatz dazu als Gesundheit des Menschendaseins, als ein Boden, auf dem die besten Eigenschaften gedeihen können.

Der heilige Josefmaria, ein Pionier der Laienspiritualität, wurde einmal gefragt: „Welche menschliche Tugend schätzen Sie über alle anderen?“ Worauf er ohne zu zögern erwiderte: „Die Aufrichtigkeit!“ Sprach er von derselben Haltung, die Gide und Sartre als „Echtheit“ (authenticité) in vielen ihrer Schriften ausposaunt haben? Oder stehen wir hier vor einem mehrdeutigen Wort? Ist die evangelische Mahnung des „Ja, ja – nein, nein“ eine bloße Ermunterung zur rücksichtslosen Entfesselung unserer natürlichen Launen?

Aufrichtig oder nur schamlos?

Man hat über die krankhafte Wirkung jeder Verdrängung so viel geplappert, dass bald jedes Ausplaudern von Intimitäten für besonders gesund gehalten wird. Man hat die Heuchelei der öffentlichen Gesellschaftsmoral und das Gekünstelte vieler abgenützter Sitten und Gebräuche so kräftig ausgepeitscht, dass jede nonkonformistische, anstößige Rede für gerechtfertigt gehalten wird. Die Selbstbefreiung von Hemmungen steht so hoch im Kurs, dass man zugunsten des „psychischen Gleichgewichts“ des Nachbarn gerne dessen Spucke im eigenen Gesicht hinnimmt.

Eine vereinfachte, popularisierte Psychoanalyse erklärt die Befreiung jedes Instinktes als naturgemäß, seine Bändigung hingegen als etwas Künstliches, als „kulturellen Ballast“. Daraus ist eine große Verwirrung entstanden: Man hält jede Entfesselung der Triebe für echt, natürlich und aufrichtig; Enthaltsamkeit, Beherrschung, Schamgefühl und Mäßigkeit verachtet man als unecht, künstlich und verlogen. Mit vielen Ärzten, Psychologen und Denkern unseres Jahrhunderts muss man aber anerkennen, dass auch die Selbstbeherrschung ganz wesentlich zur menschlichen Natur gehört und im Einzelfall nicht ohne nähere Prüfung als krankhaft oder heuchlerisch bezeichnet werden darf.

Das Schamgefühl gehört zum Beispiel ohne Zweifel zum Wesen des Grenzdaseins des Menschen zwischen dem reinen Geist und dem Tier. Weder Gott noch das Tier besitzen diese ausschließlich menschliche Eigenschaft. Beim Schamgefühl handelt es sich nicht um ein Produkt der Erziehung. Die Erziehung bewirkt nur seine Karikatur – die Prüderie – oder den Zynismus und die Obszönität, die als Gegenwirkungen eines missverstandenen und missgeleiteten Schamgefühls zu betrachten sind. Die Koketterie hat mit ihm nichts zu tun; wenn sie die Ausdrucksformen des Schamgefühls annimmt, wird sie eindeutig zur Verführung.

Das Schamgefühl verhindert, dass der Sexualinstinkt eine eigensüchtige, isolierte, durchaus unmenschliche Befriedigung sucht, solange die hingebende, gegenseitige, durchaus menschliche Liebe nicht oder noch nicht vorhanden ist. Es bewahrt damit die Sexualität vor einer Entstellung und Herabsetzung auf die Ebene der gefühls- und geistlosen Triebhaftigkeit. Das Schamgefühl bewahrt die Einheit der Persönlichkeit, das heißt, es vereint Instinkt und Geist: Vom Geist empfängt es seinen Edelsinn und Ernst, von den Sinnen Anmut und anziehende, fühlbare Schönheit. Wer Schamgefühl besitzt, erweist sich im gleichen Maß reich an Geist und an Leidenschaft.

Aus diesen und anderen Beobachtungen ergeben sich die Natürlichkeit und die positive Seite dieses heute so verachteten und sogar verlachten Behüters der Menschenliebe in ihren geistigen wie in ihren gefühlsmäßigen Dimensionen. Das Schamgefühl fördert die Echtheit der menschlichen Sexualität, indem es die Triebe in den Dienst der Liebe stellt, und es fördert – auf der Ebene der geistigen Werte – die wahre Aufrichtigkeit, indem es die ungezügelte Naturbelassenheit einer liebevollen Zwiesprache mit den Menschen unterordnet, so dass Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit weder die eigene Intimsphäre noch die des anderen verletzen.

Achtung vor der Intimsphäre

Was unter vier Augen oder im Schoß einer Familie echt und aufrichtig ist, kann in der Öffentlichkeit als bloße Rücksichtslosigkeit und Frechheit erscheinen. Bei jeder menschlichen Haltung und Handlung ist die Intimsphäre von sehr großer Bedeutung, eben die Innerlichkeit, in der die Echtheit und Notwendigkeit der Ausdrucksformen wurzeln. Wenn die Tiefe des Menschen gut und gesund ist, wird nicht nur die Echtheit seiner Taten gesichert sein, sondern auch die Aufrichtigkeit gegenüber den Mitmenschen: Keine Maske, sondern das wahre Gesicht!

Wenn aber der Geist die alten, überholten Formen abstreifen will und nach einem neuen, echteren Ausdruck sucht, dann bedeutet das Beharren bei den alten, überkommenen Traditionen eigentlich nicht Treue: Sie werden zu einem sinn- und inhaltslosen Theater degradiert. Die lebendige Kirche hat zwar immer ihre Liturgie behütet und nun doch zugunsten der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit der Gläubigen nach neuen, zeitgemäßen Formen gesucht. Wäre es nicht zu begrüßen, wenn auch die Jugend einmal die abgetragenen Riten mittelalterlicher Ritterlichkeit revidierte, die beim Heer, im Sport und bei den Studentenverbindungen schon längst auf ihre Ausrottung warten?

Hat der Drang nach Offensein nicht eine Abnahme der Innigkeit, einen Rückgang der natürlichen Verborgenheit des Lebens, des Mysteriums des Ich, der Sammlung aller Kräfte des Menschen im Schweigen verursacht und dadurch eine ungewollte Unaufrichtigkeit und Unechtheit entstehen lassen?

Das kontinuierliche Streben nach echtem Dialog muss gleichzeitig von einer tiefen Bemühung um Innerlichkeit begleitet und unterstützt werden, sonst wird die Zwiesprache speichelreich und blutarm. Echtheit und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber sind Voraussetzungen für Echtheit und Aufrichtigkeit in der Beziehung zum anderen. Und auch das Gegenteil ist wahr: Nur wer sein eigenes Gesicht – frei und offen – dem anderen liebevoll zeigt, kann sich zu sich selbst wenden und wird sein eigenes, ungeschminktes Gesicht erkennen.

Es ist nicht leicht, ein Gesicht zu haben statt einer Maske. „Wer kann mir beweisen, dass ich ein Gesicht habe, wenn nicht der Kuss Gottes?“ (Mercedes de Gournay). Nur die Beziehung zum absoluten Ich Gottes ermöglicht die Echtheit und Aufrichtigkeit der Beziehung zu sich und zu den anderen.

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Johannes B. Torelló
* 7. November 1920 in Barcelona; † 15. August 2011 in Wien - war ein aus Spanien stammender österreichischer Geistlicher und römisch-katholischer Theologe sowie weltbekannter Neurologe und Psychiater. - Zahlreiche Werke über Themen des Grenzgebietes Psychiatrie-Seelsorge-Spiritualität. Mehrmals übersetzt wurden zwei Bücher: „Psicanalisi e confessione“ und „Psicologia Abierta“ (auf Deutsch ursprünglich als Essays in der Wiener Monatsschrift „Analyse“ erschienen). Andere Titel von Vorträgen, Aufsätzen usw.: Medizin, Krankheit, Sünde; Zölibat und Persönlichkeit; Was ist Berufung? Die Welt erneuern (Laienspiritualität); Über die Persönlichkeit der ungeborenen Menschen; Erziehung und Tugend; Glauben am Krankenbett; Arzt-Sein: Soziale Rolle oder personaler Auftrag? Die innere Strukturschwäche des Vaters in der heutigen Familie; Echte und falsche Erscheinungen; Schuld und Schuldgefühle; Die Familie, Nährboden der Persönlichkeitsentwicklung; Neurose und Spiritualität; Über den Trost; Lebensqualität in der Medizin.