Warum können manche Kinder gut mit Stress umgehen, während andere völlig aufgelöst sind? Die Frage findet ihre – wissenschaftlich begründete – Antwort in einem umfangreichen Beitrag des New York Times Magazine von Po Bronson und Ashley Merryman, den Autoren von „Top Dog: Die Lehre vom Gewinnen und Verlieren„.
Hier wird Noah, ein Achtklässler vorgestellt, der sich vor jedem Standardtest so sehr ängstigte, dass es seine Mutter schaffte, ihn davon befreien zu lassen und der es nun genießt, seine Mathematik und Physik-Klasse zu wiederholen. Sein Bruder hat sich nie vor Tests gefürchtet, doch wurde auch er befreit; dies die Reaktion einer Mutter auf Schulstress, der nach Meinung der Autoren zu weit geht.
Doch was in den USA gefordert wird, ist maßvoll im Vergleich zu Taiwan, wo jedes Jahr im Mai mehr als 200.000 Schüler der neunten Klasse am Basic Competency Test for Junior High School Students, einer extrem schwierigen Prüfung, teilnehmen müssen, die darüber entscheidet, ob man in eine gute weiterführende Schule wechseln kann, womit natürlich Weichen für die Zukunft gestellt werden.
Genetische Voraussetzungen
Der Direktor des Science Education Center at National Taiwan Normal University, Chun-Yen Chang, und sein Team sind der Frage nachgegangen, warum einige Menschen besser mit Stress umgehen können als andere und sind zu folgenden Ergebnissen gekommen:
Die Ursachen liegen wohl in der genetischen Ausstattung, und zwar im COMT-Gen in Verbindung mit einem Enzym, dessen Funktion es ist, Dopamin vom Präfrontalen Cortex fern zu halten, damit dieser seine Aufgaben wie Planung, Entscheidungsfindung, Folgenabschätzung und Konfliktlösungen abarbeiten kann.
Jeder Mensch hat dieses Gen, doch liegt es in zwei Versionen vor. Eine Variante produziert Enzyme, die Dopamin langsam entfernen, die andere Variante entfernt Dopamin schnell. Die Menschen sind entweder mit der ersten oder der zweiten Variante oder einer Kombination von beiden ausgestattet.
Es wird vielleicht ein wenig kompliziert, doch ist im Allgemeinen das langsamer wirkende Enzym von Vorteil. Unter Stress jedoch, wenn Dopamin den Präfrontalen Cortex regelrecht überschwemmt, ist es günstiger, das schnell wirkende Enzym zu besitzen.
Chang und seine Kollegen untersuchten Blutproben von 779 Probanden unmittelbar nach den Basic Competency Tests in drei Regionen Taiwans. Dann verglichen sie die ermittelten Enzymwerte mit den Testergebnissen jedes Schülers und jeder Schülerin.
Es war, wie vermutet: Die Schüler mit den langsam wirkenden Enzymen schnitten in den Prüfungen im Mittel um ca. 8% schlechter ab, als ihre Mitschüler mit den schnell wirkenden Enzymen. Es war, als hätten die besten Schüler mit den zweitbesten die Plätze getauscht.
„Kämpfer“ und „Zweifler“
Es hat also einen biologischen Grund, warum manche Menschen Stress brauchen, um optimal zu arbeiten, andere hingegen arbeiten am besten ohne ihn. So ergibt sich folgendes Bild:
Einige Wissenschaftler sagen, dass die Menschen entweder „Kämpfer“ oder „Zweifler“ seien. Die mit schnellem Dopamin-Klärer seien die Kämpfer, geeignet für Arbeiten in bedrohlichem Umfeld, wo maximale Leistung gefordert ist. Die mit langsamem Dopamin-Klärer seien hingegen die Zweifler, die Bedächtigen, die zu komplexen Planungsleistungen in der Lage sind. Im Lauf der Evolution waren beide Typen zum Überleben der Völker notwendig.
Wir ererben von Vater und Mutter je ein COMT-Gen, was statistisch zu einer genetischen Ausstattung der Bevölkerung von ca. 50% Mix-Enzymen, 25% „Kämpfer“-Enzyme und 25% „Zweifler“-Enzyme führt.
Was mich hier über die biologischen Gegebenheiten hinaus interessiert, ist der Einfluss, den der Verstand nehmen kann. Auch hierzu gibt es Aussagen:
Stress kann Zweiflern helfen
Untersuchungen bei der Ausbildung von Piloten zeigen, dass „…Zweifler durch Training den speziellen Stress durchaus zu bewältigen lernen, Auswirkungen auf andere Lebensbereiche des Auszubildenden jedoch meist nicht zu verzeichnen sind“, so ein Trainer. Er fügt hinzu: „Training, Übungen und Wiederholungen zerstreuen die Hemmungen des Zweifelnden“.
Ein Psychologe sieht Stress als nützlich gerade für Zweifler an, um damit zu wachsen. Konkurrenzkämpfe sind an sich nicht schlecht, so die Experten, denn viele dieser Kämpfe sind eher als Herausforderungen denn als Bedrohungen zu werten. Sportliche Wettkämpfe zählen zu den Ersteren; gewinnen ist nicht alles, es gibt mehr dabei zu erreichen.
Akademischer Wettstreit kann ebenso eine Herausforderung sein, doch bei Standardtests „ist jeder nur besorgt um die endgültige Note“, liest man im Beitrag. Deshalb folgen nun einige nützliche Ideen, wie man Kindern helfen kann, sich an den Wettbewerbsstress zu gewöhnen und sich ihn nützlich zu machen.
Umgang mit Stress
David und Christi Bergin, Professoren für Erziehungs- und Entwicklungs-Psychologie an der University of Missouri, haben eine Pilotstudie mit Junior High School Schülern gestartet, die sich an Mathematik-Wettbewerben beteiligen.
Sie fanden heraus, dass sich diese Schüler innerhalb weniger Wochen an wesentlich komplexere Aufgaben heranwagten als zum Ende des Schuljahres vorgesehen. Einige bearbeiteten sogar Aufgaben auf College-Niveau. Dies betraf sogar Schüler, die Mathematik nicht mochten und dem Wettkampfteam nur auf Druck ihrer Eltern beitraten.
Im Bewusstsein gegen andere Teams vor Publikum antreten zu müssen, übernahmen die Schüler Verantwortung im Team. Sie waren begeistert, immer bessere Lösungskonzepte zu entdecken und diese als Waffen ihres intellektuellen Arsenals zu nutzen.
Buchstabierwettbewerbe, Jugend forscht Projekte, Schachteams, etc. „Die Leistungen sind wirklich beeindruckend“, sagt David Bergin. Selbst wenn ein Kind weiß, dass sein Projekt nicht den ersten Preis machen wird, hat es doch Gelegenheit, das Projekt darzustellen und zu verteidigen. Das ist ein Moment voller Stress, Lampenfieber und Furcht, doch wenn das Kind sich gut schlägt, ist es ein Sieg auf der ganzen Linie.
Wann ist Stress hilfreich?
„Kinder ziehen Nutzen aus Wettkämpfen, auf die sie sich intensiv vorbereitet haben, besonders dann, wenn sie diese als Gelegenheit sehen, Anerkennung für ihre Leistung zu gewinnen und sich weiter zu verbessern“, sagt Rena Subotnik, Psychologin von der American Psychological Association. Subotnik stellte fest, dass wissenschaftliche Diskurse den sozialen Stellenwert der akademischen Arbeit ebenso wie den der Teilnehmer heben. Solche Diskurse sind keinesfalls stressfrei, doch kommt der Druck in vorhersehbaren Wellen, unterbrochen von Momenten des Vergnügens und der Begeisterung.
(ins Deutsche übertragen von Horst Niederehe)