Relativismus und Subjektivismus kennzeichnen heute die geistige Haltung großer Teile der Gesellschaft. Eine relativistische Sichtweise herrscht auch in Bezug auf die Liebe vor, nämlich: Es gibt verschiedene Formen der Liebe, jeder versteht darunter etwas anderes und alle Vorstellungen sind einander gleichwertig.

Sicher gibt es diese verschiedenen Formen und unterschiedlichen Vorstellungen. Das ändert jedoch nichts daran, dass Liebe eine objektive Größe darstellt, sozusagen einen Wert, der gefunden und erreicht werden kann und will (und der oftmals eben nicht erreicht wird). 

Auch die Liebe ist ein Phänomen, das an sich besteht, also unabhängig ist von unserer Erkenntnis. Diese muss sich nach den Dingen richten, nicht umgekehrt. Diese Sichtweise heißt (philosophischer) Realismus (vgl. Horst Seidl, Sein und Bewusstsein, 2001; Realistische Metaphysik, 2006) und steht im Gegensatz zu der oben angesprochenen relativistischen Auffassung.

Vom Wesen der Liebe

Wahre Liebe kann definiert werden als Liebe, in der das wahre Wesen der Liebe verwirklicht ist (Johannes Paul II., Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie, 1962 / 2007, S. 123). Die Wahrheit oder Echtheit bezieht sich dabei also nicht nur auf die Qualität des Gefühls der beteiligten Personen, sondern auch darauf, ob dieses Gefühl dem entspricht, was Liebe sein sollte, ob also hiermit die objektive Dimension der Liebe erreicht wird.

Johannes Paul II. betont in diesem Zusammenhang darüber hinaus die Bedeutung der Wahrheit nicht nur als Maßstab und Bewertung der Liebe, sondern als Kriterium der Rechtfertigung einer Liebe (S. 120). Da Liebe sich auf die Person als ganze bezieht, also gerade deren inneren Bereich mit einbeziehen muss, weil der Mensch ein Wesen ist, dessen Natur von seiner „Innerlichkeit“ bestimmt ist (S. 119), ist die Frage nicht ohne Bedeutung, ob das, was durch das eigene Gefühl hervorgerufen, in der Person des anderen gesehen wird, auch tatsächlich vorhanden ist.

Liebe ist somit auch etwas Objektives, es gibt etwas, das Liebe ist, es gibt also Liebe in ihrer vollen und wahren Bedeutung. 

Liebe ist der höchste sittliche Wert (Johannes Paul II., S. 204). Hiermit sind aber durchaus nicht schon alle ihre Aspekte angesprochen. Ein entscheidendes Wesensmerkmal ist ihre Verbindung mit dem Absoluten, mit der absoluten Liebe Gottes, die ihre Herkunft und Quelle ist. 

Dieser Dimension können sich die Liebenden auch bewusst sein. Sie ist bei einer wahren Liebe gegenwärtig. Das Wesen der Liebe ist weiter Selbsthingabe, d.h. das Geschenk der eigenen Person an die andere Person.

Auswirkungen auf die Betrachtung der Sexualität

Auch Grundlage der Sexualität sollte die Sehnsucht nach der Person sein; Ziel ist nicht die Sexualität als solche. Sexualität, die dem Wert der Liebe entspricht, ist Vereinigung der Personen.

Denn wenn stattdessen das Begehren im Vordergrund steht, wird die Liebe verfälscht.

Die körperliche Vereinigung zwischen Liebenden ist nicht gemeinsame „Lust“, sondern vielmehr Ausdruck der seelischen Liebe. So wenig wie die (wahre) Liebe in der Erotik ihren Ursprung hat, so wenig ist Erotik auch ihr Ziel. 

Die Liebe, gerade in der spezifischen Form der Liebe zwischen Mann und Frau, existiert unabhängig von der Sexualität, ist in ihrer Existenz also nicht auf Sexualität angewiesen. Wahre Liebe sucht die Person, die Seele des anderen. Nur hieraus ergibt sich aus der körperlichen Berührung ein Gefühl des Glückes. Dieses ist von der Lust als solcher zu unterscheiden.


Sexualität hat ihren eigenen Wert, aber sie muss eingebunden sein in die Liebe der Person. Hierbei handelt es sich nicht um eine moralische Vorschrift, jedenfalls nicht um eine solche, die um ihrer selbst willen aufgestellt ist, sondern um eine Ableitung, die aus dem Wesen der Natur der Liebe und der Sexualität, die aus dem Studium der Natur des Phänomens, von dem die Rede ist, folgt, also einen Akt der Erkenntnis voraussetzt. Die Herleitung aus dem Wesen und der Natur der immateriellen Dinge, die auch diesen eigen ist, ist im Übrigen Grundlage jeder moralischen Norm (1).

Objektive Dimension der Liebe

Dass auch die geistigen Dinge eine Natur haben, die der Erkenntnis mit Hilfe der Vernunft (2) zugänglich ist, ist jedoch der heutigen Vorstellung fast aus dem Blick geraten. Die materialistisch-naturwissenschaftliche Sichtweise bestimmt auch das Bild des Menschen, der auf seine biologische Natur reduziert wird. 

Gerade im Hinblick auf die Sexualität ist dies folgenreich. Liebe ist nach dieser (eher biologistischen) Betrachtung etwas hormonell bedingtes, nicht ein geistiger Wert, der der auch geistig-seelischen Natur des Menschen entspricht und darüber hinaus auf seine Herkunft hindeutet. 

Auf die Liebe angewendet bedeutet die ganzheitliche Sichtweise, dass in der konkreten Liebe zwischen zwei Menschen eine abstrakte Größe, „die Liebe“ zur Verwirklichung gelangt, von der auch die Sexualität geprägt wird.

Damit ihre objektive Realität (3) gelebt werden kann, die Liebe also etwas ist, das zwischen den beiden Personen als Eigenes steht, ist Gegenseitigkeit notwendig. Aber auch ohne diese handelt es sich um etwas, dem das Subjekt gewissermaßen gegenübersteht, etwas, das dem Subjekt widerfährt, weil der Mensch durch die Liebe Anteil an einer Realität erhält.

Liebe beruht auf dem Erkennen des Wertes einer Person, der Wahrheit über eine Person. Sie bezieht sich auf die Person, nicht (nur) auf die „sexuellen Werte“ (Johannes Paul II.). Eine Liebe ist wahr, wenn sie sich auf die Person bezieht und auf der Wahrheit über diese Person gründet. Das Gegenteil davon wäre, in dem anderen lediglich einen Partner für das Sexualleben zu sehen, wie es heute so oft geschieht. Liebe muss deshalb zu ihrer Reife gelangen, d.h. sie darf nicht nur auf Emotionen beruhen, sondern muss auf der Wahrheit über die Person gründen und die objektiven Merkmale der Liebe umfassen.

Warum kann man hier überhaupt von „müssen“ sprechen? Das scheint der Freiheit entgegenzustehen, die heute so übermäßig stark betont wird und auf alle Bereiche ausgedehnt wird. 

Die Bedeutung von „müssen“ ist in diesem Zusammenhang: Wenn sie es nicht tut, bleibt sie hinter dem zurück, was sie sein könnte, und damit hinter ihrem eigenen Wert.

Wahre Liebe kann deshalb auch bei einer langandauernden Beziehung Bestand haben, je mehr sie – auch im Laufe der Zeit – darin ruht, die Person des anderen zu bejahen. Emotionen sind veränderlich. Beruht die Liebe aber auf der Annahme der Person, wird sie, wie Johannes Paul II. schreibt, „heiter und zuversichtlich“, sie kommt weg von der eigenen Person und den subjektiven Empfindungen und hält sich sozusagen immer mehr bei der geliebten Person auf. Weil sie immer mehr durchdrungen ist von der geliebten Person, wird sie stärker und unabhängiger (S. 197). Sie ist dann gleichsam der Zeit nicht mehr unterworfen.

Schlussbetrachtung

Weil die Sexualität heute so sehr im Vordergrund steht, hat sie gewissermaßen eine Deutungshoheit erlangt. Eine Sichtweise, die die Liebe aus der Perspektive der Sexualität deutet, scheint modern, aufgeklärt und wissenschaftlich zu sein.

Wie aus dem Vorausgehenden deutlich wird, handelt es sich dabei jedoch tatsächlich um ein Zerrbild, das der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Nur die ganzheitliche Sichtweise ist in der Lage, das Phänomen der Liebe richtig zu erfassen (so auch Johannes Paul II., S. 283). Gegenstand der Liebe muss immer die Person bleiben. Die Sexualität ist in diese Sichtweise einzufügen.

Bei der Betrachtung der Liebe das Subjektive, Unbeständige, Wechselhafte zu sehr zu betonen, führt zu einem Standpunkt, dem die objektive Dimension verloren gegangen ist. Liebe ist in ihrem Wesen auf Dauer ausgerichtet, mag sie auch diesem Anspruch nicht immer genügen (wofür es verschiedene Ursachen gibt).

Die Wesensbetrachtung, die sich auf die traditionelle Philosophie stützen kann, ist in der Lage, zur Bedeutung der Liebe zurückzufinden.


Anmerkungen

(1) Entgegen der Annahme der Tiefenpsychologie ist die traditionelle Tugendmoral nicht lediglich als menschliche Festsetzung zu sehen. Eine solche Betrachtung lässt nämlich außer acht, dass zur Menschennatur auch der Geist gehört und die Tugendideale dem – geistig-moralisch – Guten in der Geistseele entsprechen, dessen der Geist sich auch bewusst ist.

(2) Auch über diejenigen Dinge, die nicht der Sinneserfahrung zugänglich sind, kann es nach Auffassung der traditionellen Metaphysik eine Wahrheitserkenntnis geben, die mit dem Mittel der Vernunft erfolgt. Während die Sinneseindrücke zu bloßer Wahrnehmung führen, ist der Verstand in der Lage zu einer Erkenntnis auch der immateriellen Dinge zu gelangen, die mit der Wahrheit in Verbindung steht (vgl. Seidl, Vom Dasein zum Wesen des Menschen, S. 71). Platon unterscheidet von einem mit den Sinnen erfolgenden ein vernunftmäßiges Wahrnehmen, das sich auch auf die Intuition stützen darf (intuitive Erkenntnis mittels der Vernunft), vgl. Seidl. a.a.O., S. 82. Die Annahme, dass es außerhalb der Sinneserfahrung keine sichere Wahrheitserkenntnis geben könne, ist nicht überzeugend. Sie widerspricht dem Bewusstsein, das der Geist von sich selbst hat.

(3) Die Möglichkeit, das Seiende mittels der Vernunft zu erfassen und darüber eine gültige Aussage zu treffen, wird erstmals in der Philosophiegeschichte von Parmenides (um 515 – 445, griech. Philosoph, Vorsokratiker) angenommen. Der klassische Realismus geht davon aus, dass das Seiende der menschlichen Erkenntnis vorausgeht und unabhängig von ihr existiert (vgl. Seidl, Sein und Bewusstsein, S. 46). Dasein ist in der klassischen Ontologie immer verursachtes Sein, das auf eine erste Seinsursache (Gott) verweist. Die auf Kant zurückgehende Metaphysikkritik sieht hingegen umgekehrt nicht unsere Erkenntnis von den Dingen, sondern diese von den subjektiven Erkenntnisbedingungen abhängig (vgl. Seidl, Sein und Bewußtsein, S. 112). Die Annahme, dass es sich lediglich um unsere eigene Vorstellung von den Dingen handelt, ist heute sehr verbreitet.