Der Mensch braucht ein ganzes Leben, um reif zu werden. Er ist dabei auf die Hilfe anderer und, sofern er verheiratet ist, besonders auf die Hilfe seines Ehepartners angewiesen. Der Mann braucht die Unterstützung seiner Frau, und diese braucht die Unterstützung ihres Mannes, um die verborgenen Möglichkeiten zur Entfaltung zu bringen.

Bedeutung der Treue

Christlich gewendet heißt das: Die Eheleute können sich gegenseitig helfen, möglichst vollkommen, ja heilig zu werden. Hier zeigt sich die Bedeutung der ehelichen Treue. „Treue“ zielt natürlich auf den sexuellen Bereich, läßt sich aber nicht darauf beschränken. Sie besagt, daß man zum Partner steht, und zwar in allen Dimensionen seiner Persönlichkeit. Im ehelichen Alltag ist die Treue normalerweise still und unauffällig zugegen, durch einfaches Beistehen und Dabeibleiben, in guten und in schlechten Zeiten.

Man braucht die Hilfe des anderen vor allem im gewöhnlichen Einerlei, in den Erfordernissen der Familie und des Berufes. Man braucht sie aber auch dann, wenn man versagt, wenn man an sich selbst zweifelt, vielleicht auch schuldig geworden ist. „Du mußt zu deinen Freunden stehen, besonders wenn sie unrecht haben,“ sagt ein französisches Sprichwort. Wenn einer im Begriff ist, in den Abgrund zu stürzen – ist der Partner dann nicht umso mehr herausgefordert, mit ihm und um ihn zu ringen?

Was ist, wenn …

Das klingt für uns heute sehr idealistisch. Was soll man denn tun, wenn die Verfehlungen unerträglich sind? Wenn man grenzenlos ausgenützt wird, sich wehrlos fühlt, als Spielzeug empfindet? Was geschieht, wenn man dem anderen nicht mehr vertrauen kann, weil man gute Beweise dafür hat, daß man belogen wird?

In solchen Situationen sind die letzten Grundhaltungen des Menschen gefragt. Vielleicht wird manchmal die physische Trennung unumgänglich sein. Doch es lohnt sich, vorher alle Kräfte einzusetzen, um durchzuhalten. Was würde aus unserer Welt, wenn niemand mehr bei einem anderen ausharren könnte? Mit dem ehelichen Versprechen müssen wir höchst verantwortungsvoll umgehen. In ihm haben wir uns freiwillig an eine Person gebunden. Wenn wir es als Christen und vor Gott gegeben haben, dann haben wir uns mit dieser Person und gewissermaßen durch sie hindurch zugleich auch mit Christus verbunden. Das Treueversprechen wird auch Christus gegenüber vollzogen. „Man schenkt sich nicht nur gegenseitig …, man schenkt sich auch Christus in dem anderen.“ Die Ehegatten leben nicht nur füreinander. Im Grunde leben sie gemeinsam für Christus.

Sakramentale Dimension

Das Wesen der christlichen Ehe besteht gerade darin, daß Partnerschaft und Nähe zu Gott unmittelbar zusammengehören. Mann und Frau erreichen sich mit ihrer Liebe nicht nur gegenseitig. Miteinander erreichen sie Gott selbst. In ihrer Liebe wird Christus mitgeliebt. Denn die Ehe stellt als Sakrament eine der sieben geheimnisvollen Quellen der Teilnahme am göttlichen Leben dar. Das bedeutet: Wenn die Ehegatten einander näher kommen, werden sie zugleich inniger mit Christus vereinigt. Wenn sie sich voneinander trennen, könnte es geschehen, daß sie sich auch von Christus trennen.

Manche Menschen fragen sich: „Kann ich wirklich in der Nähe meines ruinierten Ehepartners bleiben? Habe ich dann nicht teil an seinem inneren Chaos? Werde ich dann nicht von seinen bitteren und giftigen Gefühlen, von seinen Aggressionen überschwemmt? Ich muß mich schützen und von ihm abgrenzen!“ Dieser Schutz ist tatsächlich manchmal nötig, wenn es sich um eine rein menschliche Freundschaft handelt. Doch wenn man hoffen darf, daß Gottes Liebe durch die Gemeinschaft hindurchwirkt, dann braucht man keine Angst zu haben. Man kann vertrauen, daß Gottes Liebe zu heilen vermag.

Die christliche Ehe gehört nicht nur zwei Personen, die sich füreinander entschieden haben. Sie gehört auch Christus. Das gibt ihr besondere Kraft und Innigkeit. Sie verbindet die Eheleute so eng mit Gott, daß sie, selbst wenn sie subjektiv unglücklich ist, objektiv fortbesteht.

Durchhalten?

Was nun ist zu tun, wenn die eheliche Situation ausweglos erscheint? Allgemeine und glatte Lösungen gibt es sicher nicht. Jede Ehe ist einmalig! Deshalb muß jedes Ehepaar seinen eigenen Weg finden. Nicht selten geschieht es, daß der Blick auf Gott einem verzweifelten Menschen die Kraft gibt, die er braucht, um trotz aller Schwierigkeiten durchzuhalten. Andere Male wird der Blick auf Gott auch die Klarheit schenken, die nötig ist, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Wie dem auch sei, in solchen Situationen äußerster Dunkelheit spüren wir gewöhnlich sehr deutlich, daß weder der Ehepartner noch sonst irgendein Mensch uns letztlich erfüllen kann – sondern nur Gott allein.

Viele Menschen finden in einem intensiven Glaubensleben den inneren Frieden zurück. Hier erhalten sie den Mut, auch weiterhin den anderen zu bejahen, sogar Elend und Schuld des Ehepartners auf sich zu nehmen und vor Gott zu tragen. Die eigene Müdigkeit und der eigene Mißerfolg treten dann in den Hintergrund. Nun kommen wir auf das zurück, wovon wir ausgegangen sind: Vorbild ehelicher Liebe ist für einen Christen nichts Geringeres als die Hingabe Christi am Kreuz! Das bedeutet nicht, daß die Ehe an sich ein Kreuz wäre oder eine Schule der Resignation. Ehe hat auch mit Glück zu tun! Doch es weist darauf hin, daß auch die Ehe ein Weg der Nachfolge Christi ist. Und Christus findet man in diesem Leben oft am Kreuz! Ein Mensch wird in der Ehe dem Leiden Christi insofern nachgestaltet, als dieses Leiden aus Liebe geschah. Aus Liebe litt Christus die Kreuzesqualen. Außerdem litt er in vollkommener Freiheit. Manchmal gibt es eheliche Situationen, die besonders stark an dieses freiwillige Leiden erinnern.

Verzeihen

In jenen schwierigen Situationen kann man den Ehepartner wohl nur in einer besonderen Ausgestaltung der Nächstenliebe umfassen. Schuld kann man nicht bejahen, aber man kann sie mit dem anderen zusammen tragen und mit ihm zusammen sühnen. Es gibt bewundernswerte Frauen und Männer, die ihrem schuldig gewordenen Ehepartner verzeihen können. Sie nehmen selbst das Versagen und den Wankelmut des anderen an und lassen ihn immer wieder spüren, daß sie in ihm den sehen, der er werden soll. So hoffen sie, daß in ihrem Partner – langsam – neue Möglichkeiten erwachen. Wo auf diese Weise an der ehelichen Liebe bis zum Ende, ja bis zum Zerbrechen aller irdischen Hoffnungen festgehalten wird, da ist Gott sicherlich immer sehr nah!

Zweifellos gibt es eheliche Situationen, die sehr hart, fast untragbar sind. Menschen, die unter ihnen leiden, verdienen das Verständnis, die Unterstützung, nicht selten auch die Bewunderung der Mitwelt. Stattdessen ist es üblich, über sie zu tuscheln und zu urteilen! Ich denke, wir sollten uns ernsthaft bemühen, diese gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu ändern. Nur dann werden wir wirksam zu der „Zivilisation der Liebe“ beitragen können, von der unser Heiliger Vater so gern spricht.

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Jutta Burggraf
Jutta Burggraf (* 1952 in Hildesheim; † 5. November 2010 in Pamplona) war eine deutsche Theologin. Burggraf erhielt 1996 einen Ruf auf die Professur für Ekklesiologie, insbesondere für Theologie der Schöpfung, ökumenische Theologie und feministische Theologie an der Universität Navarra. Burggraf war auf der 7. Ordentlichen Bischofssynode, die vom 1. bis 30. Oktober 1987 in Rom stattfand, als Expertin geladen und hat an der Vorbereitung des Apostolischen Schreibens Christifideles laici zur „Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt“ von Papst Johannes Paul II. mitgewirkt. Sie war seit 1996 korrespondierendes Mitglied der Pontificia Accademia Mariana Internazionale (PAMI). --- „Sie war zeitlebens eine Kämpfernatur; sie war verantwortungsbewusst, arbeitsam, zäh. Sie liebte das einfache Leben, freute sich an der Freizeit und hatte einen Sinn für alles Schöne. Sie war ihren Freundinnen eine echte Freundin.“ So hat Prälat Rafael Salvador, der Vikar der Delegation des Opus Dei in Pamplona, Spanien, Jutta Burggraf charakterisiert, die am 5. November nach schwerer, mit Gottvertrauen getragener Krankheit von uns gegangen ist.