Verschwiegen wird da gar nichts; die „Geschwister“ Jesu werden ja im Neuen Testament mehrfach erwähnt und die entsprechenden Stellen[1] auch in der Hl. Messe immer wieder verlesen. Man muss nur wissen was da gemeint ist. Die betreffenden Worte für Bruder / Schwester bzw. Geschwister im altgriechischen Originaltext des NT[2] bezeichnen eben nicht nur leibliche Geschwister ersten Grades. Es können auch Verwandte aus dem weiteren Familienkreis, also Vettern und Kusinen unterschiedlichen Grades, gemeint sein.

Zwar war das im allgemeinen Sprachgebrauch nur eine mögliche Bedeutung; aber entscheidend ist – wie immer – der Zusammenhang. Und aus dem ergibt sich der weitere Verwandtschafts-Begriff. Das wird auch deutlich, wenn man das zugrunde liegende  hebräische (und aramäische) Wort betrachtet[3], das genau diese weite Konnotation hatte. Und Aramäisch war die Umgangssprache, die Jesus und seine ganze Familie im Alltag verwendeten.

Das klingt nun sehr akademisch, vielleicht sogar ein wenig spitzfindig. Aber wenn wir mit offenen Augen an die Sache herangehen, dann finden wir noch andere Belege dafür, dass die traditionelle kirchliche Auslegung des Begriffs nicht übertrieben oder gar erfunden ist.

Da ist zum Beispiel der Bericht über den zwölfjährigen Jesus im Tempel[4]. Maria und Joseph konnten ohne Weiteres davon ausgehen, dass Jesus auf dem Rückweg von Jerusalem nach Nazareth mit den anderen Verwandten unterwegs war; sein Fehlen haben sie dann erst am Abend bemerkt. Der enge Zusammenhalt im großen Familienverbund war ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Und für die Apostel und Evangelisten war es ebenfalls so normal, dass sie keine Erklärung der Begebenheit für nötig erachteten. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Maria und Joseph hätten ihre Aufsichtspflicht verletzt. Sie hatten den Jungen ja offenbar zuletzt bei den Verwandten, bei seinen „Geschwistern“, gesehen.

Ein noch helleres Schlaglicht auf seine „Familienverhältnisse“ werfen aber die letzten Worte Jesu am Kreuz, unter dem seine Mutter Maria und der Jünger Johannes standen. Unmittelbar vor seinem Tod vertraut er noch seine Mutter dem Johannes an[5], „und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“. Wenn Joseph offenbar schon verstorben war und eine Witwe im alten Israel Schutz brauchte, warum musste das ein Außenstehender übernehmen? Wären da noch „die anderen Kinder“ gewesen, Jakobus, Joses, Judas und Simon[6], und die Schwestern, hätte sich gewiss einer von ihnen sofort um sie kümmern können. Allen voran der „Herrenbruder“ Jakobus, der nach Tod und Auferstehung Jesu der erste Leiter der Gemeinde in Jerusalem wurde. Aber Maria[7] stand eben allein, und Jesus bat den „Lieblingsjünger“ sich um sie zu kümmern.


[1]Vgl. Mk. 3, 32 und Mk. 6, 3, oder  Gal. 1,19.

[2]Adelphós (ἀδελφός) bzw. adelphé (ἀδελφή) in der weiblichen Form, bedeuten Bruder bzw. Schwester. Beide können auch im übertragenen Sinne verwendet werden, wie wir es auch in der deutschen Sprache kennen. Plural (Geschwister) adelphoí (ἀδελφοί).

[3]„Bruder“ auf Hebräisch und Aramäisch: Ach (אַח). Vgl. Walter Bauer: Wörterbuch zum Neuen Testament. Berlin/New York 1971. Sp. 30. Ebenso: Gesenius/Buhl: Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das AT. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1962. S. 22

[4]Lk. 2, 41 ff. Hinzu kommt in dieser Perikope natürlich der spiritueller Aspekt, um den es eigentlich geht: Jesus musste im Hause seines Vaters sein.

[5]Joh. 19, 26 f.  Zu Maria: „Frau, siehe Dein Sohn!“ Und zu dem Jünger: „Siehe, deine Mutter“.  

[6]Mk. 6,3.

[7]Zur theologischen Einordnung der Thematik sehr zu empfehlen: Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Gott und die Welt. Gespräche mit Peter Seewald.  München 2005. Kap. 13.


Bild: Aus der Serie „The Chosen