Die Tugend der Keuschheit wird oftmals völlig verzerrt dargestellt. Keuschheit ist aber keine kleinkarierte Tugend für „Fachidioten des Moralismus“, sie ist kein sturer Buchhalter der Zentimeter und Zehntelsekunden des Erlaubten und des Unerlaubten zur Gewissensberuhigung gieriger Frömmler. Ihr letzter Grund ist die Liebe.

Keuschheit

Keuschheit ist jeder starren Gesetzlichkeit fremd, nie eine kleinkarierte Tugend für Fachidioten des Moralismus, sie ist kein sturer Buchhalter der Zentimeter und Zehntelsekunden des Erlaubten und des Unerlaubten zur Gewissensberuhigung gieriger Frömmler. Sie ist kein prüdes und kitschiges Mieder der triebhaften Spontaneität. Die Keuschheit ist vielmehr die höchst dynamische schwebende Mitte zwischen Spiritualismus und Materialismus, zwischen Anbetung des Leibes und satanischem Stolz des Geistes, zwischen mythologischer Vergeistigung des Leibes und Verachtung des Geschlechtlichen. Jene Vergeistigung des Leibes schließt die schändlichste Vergegenständlichung des Geistes mit ein, und die Verachtung des Geschlechtlichen setzt die rebellische Entkörperlichung des Geistigen voraus.

Keuschheit ist diese Mitte und diese Höhe zwischen den irrtümlichen und lasterhaften Extremen der desinkarnierten Geistigkeit und der isolierten, genauso unmenschlichen Sinnlichkeit. Die Keuschheit untersteht dem Gebot der Liebe und empfängt von der Liebe ihren Sinn -oder sie ist keine Keuschheit mehr. Thomas von Aquin sagt: „Der letzte Grund der Keuschheit liegt in der Liebe und in den anderen göttlichen Tugenden, durch die der Geist des Menschen sich mit Gott verbindet.“(23)

Und Josemaría Escrivá, mein geistlicher Vater und Lehrer, dieser Pionier der Spiritualität der Laien in unserer Zeit, hat geschrieben: „Ohne Liebe ist die Keuschheit unfruchtbar. Ihre leblosen Wasser verwandeln die Seele in einen Tümpel, in einen faulen Teich, aus dem Dunstwellen des Hochmutes steigen.“ (24)

Keuschheit im Dienst der Liebe

Wo Keuschheit herrscht, dort ist die Sexualität inkarnierte Liebe, dort gibt es Zartheit statt Gewalt, Taktgefühl statt egoistisches Profitdenken, spontane Liebeskunst statt Technik. Wo Keuschheit herrscht, dort wird die Sexualität, das Sexualleben, nie zum Zank, dort schwinden Leistungsverlangen, Leistungsschaustellung, Potenzprotzerei und bange Konzessionen aus falschem Mitleid. Keuschheit, das heißt humanes, geistreiches Sexualleben, ist Harmonie der Person in sich und mit dem Partner, der immer als Person betrachtet und behandelt wird. Sie ist stets ein langer Weg, auf dem man unaufhörlich fortschreiten kann und soll, manchmal auch durch Enthaltsamkeit, Verzicht und Selbstverleugnung, welche aber als leibliche Austragung der Liebe nicht mehr Opfer sind, sondern eben eine Variante der Liebeshingabe. 

Keuschheit ist die einzige gültige Humanisierung der Sexualität

Mann und Frau, beide Ehepartner, bedürfen der Zärtlichkeit, der Verleiblichung der Liebe, ja benötigen es, begehrt und erobert zu werden, ebenso sehr wie sie Respekt ihrer Freiheit und ihres Geschmacks, wie sie Verehrung, Geborgenheit, Einfühlungsvermögen und Wertschätzung der eigenen Einmaligkeit brauchen. Da all diese Verlangen bei beiden Partnern selten, sehr selten denselben Rhythmus haben, muss die Steifheit und mechanische Unbeugsamkeit des Triebhaften gezähmt und der Menschlichkeit der Ich-Du-Beziehung immer von neuem angepasst werden: Keuschheit als einzige gültige Humanisierung der Sexualität. (25)

Da aber die Annahme des Kreuzes und seiner Forderungen im menschlichen Zusammenleben so schwer fallen, dass selbst die Jünger des Herrn vor den strengen Forderungen Jesu in diesem Zusammenhang ausriefen: „Wenn die Sache so steht zwischen Mann und Frau, dann ist es besser, nicht zu heiraten“, entgegnete der Meister: „Nicht alle können dieses Wort fassen, sondern nur die, denen es gegeben ist.“ (26) 

Und das heißt: Die Tugend im Bereich der Sexualität, das Gute im Bereich der sexuellen Hingabe und der Keuschheit in allen ihren Formen sind eine Gnade, um die man demütig beten muss. Es ist gerade ein Zeichen der Reife des Menschen, diese Notwendigkeit, allen unentbehrlichen Maßnahmen und Bemühungen zum Trotz, erkannt zu haben.

Die Keuschheit ist nicht die erste Tugend und sie darf auch nicht zu einer Zwangsvorstellung werden. Aber der vollkommene Mensch – Jesus Christus – fordert sie und hilft, weil er die allgemeine Schwäche kennt. Er vergab die Sünden in diesem Bereich im Nu, aber er hat seine Forderungen deswegen nicht abgeschwächt. Es sind harte Forderungen zugunsten einer zarten Sache, ja im Dienste der Liebe. Wir alle sollten abschließend mit dem heiligen Augustinus dieses Gebet sprechen: „Da Domine quod iubes, et iube quod vis! – Gib o Herr, was Du forderst, und dann fordere, was Du willst!“


Anmerkungen

(23) Thomas von Aquin, Summa theologica II-II q. 157, a2 c.
(24) Josemaría Escrivá, Der Weg, Köln 1978, Nr.119
(25) vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben „Familiaris consortio“ vom 22.11.1981, Nr.33; Paul VI., Enzyklika „Humanae vitae“ vom 25.7.1968, Nr.21. S.39, Trier 1968
(26) Mt 19,10-11

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Johannes B. Torelló
* 7. November 1920 in Barcelona; † 15. August 2011 in Wien - war ein aus Spanien stammender österreichischer Geistlicher und römisch-katholischer Theologe sowie weltbekannter Neurologe und Psychiater. - Zahlreiche Werke über Themen des Grenzgebietes Psychiatrie-Seelsorge-Spiritualität. Mehrmals übersetzt wurden zwei Bücher: „Psicanalisi e confessione“ und „Psicologia Abierta“ (auf Deutsch ursprünglich als Essays in der Wiener Monatsschrift „Analyse“ erschienen). Andere Titel von Vorträgen, Aufsätzen usw.: Medizin, Krankheit, Sünde; Zölibat und Persönlichkeit; Was ist Berufung? Die Welt erneuern (Laienspiritualität); Über die Persönlichkeit der ungeborenen Menschen; Erziehung und Tugend; Glauben am Krankenbett; Arzt-Sein: Soziale Rolle oder personaler Auftrag? Die innere Strukturschwäche des Vaters in der heutigen Familie; Echte und falsche Erscheinungen; Schuld und Schuldgefühle; Die Familie, Nährboden der Persönlichkeitsentwicklung; Neurose und Spiritualität; Über den Trost; Lebensqualität in der Medizin.