Die Künstliche Intelligenz macht in der Tat rasante Fortschritte, und billige Übersetzungs-Apps sind bald für alle Lebenslagen verfügbar, auch für die mündliche Kommunikation, in beinahe allen Sprachen.
Lost in translation
Wenn es aber um Zwischenmenschliches geht, um mehr als den Austausch von Informationen im praktischen Alltagsleben, dann nimmt der Grenznutzen der Technik schnell ab. Es bleibt immer eine unsichtbare „Wand“ zwischen uns und unseren Gesprächspartnern. Das gilt in gewissem Umfang schon für klassische Formen des Dolmetschens. Der Film „Lost in Translation“[1], mit Bill Murray und Scarlett Johansson, stellte das schon lange vor dem KI-Zeitalter treffend dar.
Wenn wir künftig auch noch ständig die „Krücke“ einer Sprach-App nutzen, wird sich diese Entfremdung in der alltäglichen Kommunikation nur noch ausweiten. Man ist dann nie wirklich bei seinem Gesprächspartner, vielmehr anwesend und doch abwesend – ganz so, als spräche man über einen Video-Chat aus der Ferne. Menschliche Nähe geht anders. Man kann per App in einer fremden Umgebung „überleben“, aber nicht Freundschaft schließen. Und wer würde eine Liebeserklärung per KI aussprechen? Oder gar annehmen? Ohne ein Mindestmaß an Mehrsprachigkeit geht es nun mal zwischen Menschen verschiedener Kulturen nicht.
Mehrsprachigkeit heute
Früher galt nur als „mehrsprachig“, wer mindestens mit zwei oder mehr Sprachen gleichzeitig aufgewachsen war und diese quasi muttersprachlich beherrschte. Mittlerweile hat sich in Fachkreisen ein ganz anderer Begriff durchgesetzt: Als „mehrsprachig“ gilt jeder, der einmal eine Fremdsprache mit leidlichem Erfolg erlernt hat. Damit ist Mehrsprachigkeit heute der Normalfall. Wer keine Fremdsprache spricht, wird künftig marginalisiert und verliert wertvolle komparative Vorteile in Wirtschaft und Gesellschaft – und im persönlichen Leben. Längst kann man in Deutschland keine MINT-Fächer, Ingenieurwissenschaften etc. mehr studieren, ohne ganze Kurse und Prüfungen in englischer Sprache. Mit „etwas Englisch“ ist es da nicht getan. Ein zusätzlicher Anreiz: Nach überwiegender Meinung der Fachgelehrten schützt der regelmäßige Gebrauch von Fremdsprachen über einen langen Zeitraum vor Altersdemenz; zumindest wird das Eintreten derselben verzögert.
Mehr als nur Englisch
Sprache ist nicht nur ein praktisches Hilfsmittel zum Informationsaustausch in Tourismus, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie dient natürlich auch der interkulturellen Verständigung. Wer einmal erlebt hat, welche Türen sich öffnen, wie viel Sympathie man sofort gewinnt, wenn man in einem fremden Land auch nur ein paar Sätze in der Landessprache sagt, der ahnt schnell, was ihm ohne dies entgeht. Kultur ist immer in großem Umfang „sprachlich verfasst“, und eine fremde Kultur verstehen wir nur dann wirklich, wenn wir uns ein wenig mit ihrer Sprache vertraut machen.
Philosophie und Theologie
Der „Linguistic Turn“ in der Philosophie und in den Geistes- und Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts mag in mancherlei Hinsicht über das Ziel hinausgeschossen sein, zeigte aber doch eine wichtige Dimension des Menschlichen auf. Und gerade als Christen sollten wir die Macht und Bedeutung des Wortes nie aus den Augen verlieren. Nuancen der Bibelübersetzungen können erhebliche Auswirkungen auf unser Schriftverständnis haben. Und wenn auch der göttliche „Logos“[2] natürlich nicht sprachwissenschaftlich oder gar fremdsprachendidaktisch gedeutet werden kann, spiegelt sich in dem Wort doch eine ewige Wahrheit.
Ein lohnenswertes Experiment
Es lohnt sich im übrigen, einmal bekannte Bibeltexte in einer beliebigen Fremdsprache zu lesen; es muss nicht der griechische oder hebräische Urtext sein, oder das Latein der Vulgata[3]. Vielmehr kann es irgendeine anerkannte Standardübersetzung in einer modernen Sprache der Gegenwart sein. Durch den positiven „Verfremdungseffekt“ können Texte des NT, die wir vielleicht schon allzu oft gehört oder gelesen haben, und die dadurch sozusagen ihre Farbe für uns verloren, wieder aufgefrischt und anregend werden.
[1]Regisseurin Sofia Coppola gewann 2004 dafür einen „Oscar“.
[2]Griechisch: λόγος .Vgl. Joh. 1, 1: „Im Anfang war das Wort…“
[3]Die auf Hieronymus zurückgehende, über Jahrhunderte maßgebliche Übersetzung der Bibel des Alten und Neuen Testaments ins Lateinische. Hieronymus war ein Sprachgenie des 4. Jahrhunderts und zeitlich und kulturell so viel näher als wir an der Entstehung des Kanons der Hl. Schrift, dass seine Übersetzungen noch heute in vielen Zweifelsfällen von großer Relevanz sind. Besonders seine Kenntnisse des neutestamentlichen Koiné-Griechisch können noch immer unvergleichliche Verständnishilfen sein.