Filmische Qualität:   4,5 / 5
Regie:Wang Xiaoshuai
Darsteller:Wang Jingchun, Yong Mei, Qi Xi, Wang Yuan, Du Jiang, Ai Liya, Xu Cheng, Li Jingjing, Zhao Yanguozhang
Land, Jahr:China 2019
Laufzeit:185 Minuten
Genre:
Publikum:ab 12 Jahren
Einschränkungen:
im Kino:11/2019
Auf DVD:3/2020

(Foto: Piffl Medien)

Trauerarbeit, die Verarbeitung eines traumatischen Verlusts, gehört zu den häufigen Kinosujets. So musste etwa zuletzt im französischen Film von Mikhaël Hers Mein Leben mit Amanda eine Siebenjährige den von den islamistisch motivierten Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris verursachten Tod ihrer Mutter aufarbeiten.

Als noch dramatischer nimmt sich für die Eltern der Tod eines Kindes aus. Im Jahre 1994 drehte der chinesische Regie-Altmeister Zhang Yimou den von vielen als sein Meisterwerk angesehenen Spielfilm „Leben!“, der von den Schicksalsschlägen einer vierköpfigen Familie im Laufe mehrerer Jahrzehnte von den 1940er Jahren bis zur chinesischen Kulturrevolution erzählt. Die beiden Kinder der Familie sterben: Der Sohn wird in den Zeiten des „Großen Sprungs nach vorne“ unter den Trümmern einer Schulwand begraben, die der LKW des KP- Bezirksparteifunktionärs rammt.

Die schwangere Tochter verblutet viele Jahre später, als es bei der Geburt zu Komplikationen kommt, und die angehenden, „kulturrevolutionären“ Mediziner, die vorher die „konterrevolutionären“ Ärzte aus dem Krankenhaus verbannt hatten, die Blutung nicht stoppen können. Obwohl Zhang Yimou wegen der kritischen Haltung seines Filmes mit einem zweijährigen Berufsverbot belegt wurde, konnte „Leben!“ international gezeigt werden. Er gewann den Großen Preis der Jury in Cannes, und wurde für den Golden Globe nominiert.

Eine Familiengeschichte über mehrere Jahrzehnte hinweg – allerdings in der Zeit von den 1980er Jahren bis ins Jahr 2011 – schildert der Film des chinesischen Regisseurs Wang Xiaoshuai „Bis dann, mein Sohn“, der am Wettbewerb der diesjährigen Berlinale teilnahm, und auf der die beiden Hauptdarsteller Yong Mei und Wang Jingchun mit je einem Silbernen Bären als Beste Darstellerin beziehungsweise Bester Darsteller ausgezeichnet wurden. 

In den 1980er Jahren leben in einer Stadt im Norden Chinas zwei befreundete Familien Wand an Wand im Wohnheim der Metallfabrik, in der die Erwachsenen arbeiten. Liyun (Yong Mei) und Yaojun (Wang Jingchun) sind ein glückliches Paar. Ihr Sohn Xingxing ist am gleichen Tag geboren wie Haohao, der Sohn von Haiyan (Ai Liya) und Yingming (Xu Cheng). Aber eine Tragödie verändert für immer das Leben der zwei Familien.

An einem heißen Sommertag des Jahres 1994 ertrinkt Xingxing im Rückhaltebecken eines Staudamms, nachdem Haohao ihn ziemlich eindringlich darauf aufgefordert hatte, doch noch ins Wasser zu springen. Deshalb wird Haohao dieser Vorfall ein Leben lang verfolgen. Daran zerbricht ebenfalls die Freundschaft zwischen den beiden Ehepaaren.

Im selben Jahr verliert Liyun während einer mit dem radikalen Umbau der chinesischen Wirtschaft verbundenen Entlassungswelle ihre Arbeit. Yaojun und Liyun ziehen in eine Küstenstadt in der Provinz Fujian im Süden Chinas. Sie adoptieren ein Waisenkind, dem sie den gleichen Namen wie ihrem verstorbenen Sohn geben, Xingxing (Wang Yuan). Die Familie lebt zurückgezogen, auch weil sie den in Fujian gesprochenen Dialekt nicht verstehen.

Gerade als ihr Adoptivsohn die Familie verlässt, ereilt sie die Nachricht, Haiyan sei ein tödlicher Hirntumor diagnostiziert worden. Es ist das Jahr 2011. Yaojun und Liyun entschließen sich, sie zu besuchen, und damit an den Ort zurückzukehren, an dem sich die Tragödie ereignete. Yingming, der sich 1994 im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung selbstständig gemacht hatte, ist inzwischen ein erfolgreicher Bauunternehmer in einer vollständig verwandelten Stadt. Haohao ist Arzt geworden. Durch ihre Rückkehr in die Stadt, die sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben und nun kaum wiedererkennen, treten bei Yaojun und Liyun Gefühle wieder ans Tageslicht, die sie jahrzehntelang unterdrückt hatten.

Über die dreistündige Filmdauer hinweg springt Drehbuchautor und Regisseur Wang Xiaoshuai zwischen den Zeiten und Epochen hin und her. Denn der Verlust, den Yaojun und Liyun erlitten haben, ist viel zu groß, als dass sich die Erinnerungen in die lineare Zeit einfügen ließen. Das Durchlaufen verschiedener Epochen hinterlässt Spuren in den Gesichtern der Protagonisten. Sie lässt aber auch die Umwälzungen zutage treten, die während der drei Jahrzehnte China erlebt. Dadurch entsteht aus den verschiedenen Elementen langsam ein Gesamtbild, das nicht nur die Geschichte der zwei Familien, sondern auch die Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft widerspiegelt.

Dazu führt der Regisseur aus: „Der Film erzählt von einfachen Menschen in China in Zeiten, als Gesellschaft, Familie und die individuelle Lebensgestaltung von tiefgreifenden Veränderungen erschüttert wurden. Wenn ich die tiefgreifenden Veränderungen seit Beginn der Wirtschaftsreformen nachzeichne, nehme ich die persönlichen Schicksale in den Blick, die sich vor diesem Hintergrund abgespielt haben. Die Familien in meinem Film fungieren als Mikrokosmos der chinesischen Gesellschaft der letzten 30 Jahre.“

Dabei spielt insbesondere die 1979 eingeführte „Ein-Kind-Politik“ eine herausragende Rolle. In „Bis dann, mein Sohn“ nimmt dies insofern eine besondere Stellung ein, als Liyun 1986 zu einer Abtreibung gedrängt wird, und dann auch noch von der Partei eine Auszeichnung für ihren Einsatz für die Familienplanung erhält. Denn es wurden nicht nur hohe Geldstrafen verhängt, wenn jemand mehr als ein Kind hatte. Darüber hinaus waren die Betriebe für die Einhaltung der ihrer Belegschaft zugeteilten Geburtenquote verantwortlich. Erst 2016 wurde in China die „Ein-Kind-Politik“ aufgehoben und durch das Leitbild der Zwei-Kind-Familie ersetzt.

„Bis dann, mein Sohn“ erzählt ein Familienepos, das ähnlich Zhang Yimous „Leben!“ einerseits die politischen und sozialen Umwälzungen im China im Laufen von dreißig Jahren nachzeichnet, andererseits von Trauer und Verlust, aber auch von Hoffnung, Freundschaft und ebenfalls von einer Liebe handelt, die nach dem tragischen Unfall zu zerbrechen droht, dann jedoch ein Leben lang hält.

Die Evangelische Filmjury hat gerade „Bis dann, mein Sohn“ zum „Film des Jahres 2019“ gekürt.