(Bild-Ausschnitt: „Die Sieben Todsünden und Die vier letzten Dinge“ – Hieronymus Bosch. Kommentar zum Bild-Ausschnitt:  Eine Schlägerei vor einem Wirtshaus, bei der auch das Mobiliar nicht verschont bleibt. Eine Frau versucht einzugreifen Zum vollständigen Gemälde gelangen Sie -> hier )

„Also, manchmal kriege ich echt den Zorn! Wenn man sich das ansieht, was da passiert, dann kann man einfach nicht anders! Ist doch wahr! Also ehrlich …“ Die meisten von uns dürften das von sich selbst kennen, und wir alle haben schon so etwas erlebt. Wie schlimm ist das?

Heiliger und unheiliger Zorn

Die gute Nachricht: Es erfüllt noch nicht den Tatbestand der Haupt- oder „Todsünde“ des Zornes. Nicht jede Aufregung oder Empörung – besonders wenn sie aufgrund einer echten Untat bzw. eines schweren Fehlverhaltens entsteht – ist verwerflich. Im Gegenteil: In bestimmten Situationen kann es geradezu geboten sein „sich aufzuregen“, sich zu engagieren und aus dieser Haltung heraus auch aktiv einzugreifen, jedenfalls nicht stumpfsinnig wegzuschauen oder alles achselzuckend hinzunehmen[1].

Es gibt einen berechtigten, sogar einen „heiligen Zorn“. Und war es nicht so etwas, als Jesus den geschändeten Tempel reinigte und jene mit „robusten“ Mitteln daraus vertrieb, die diese heilige Stätte profaniert hatten? Alle vier Evangelien berichten darüber, besonders detailreich und farbig der Evangelist Johannes. Dort[2] wird auch bedacht, mit welcher inneren Einstellung Jesus solcherart gegen den Missbrauch des Tempels vorgegangen sein mag: Hier ging es tatsächlich um so etwas wie „heiligen“ Zorn oder Eifer, im Lateinischen mit dem Wort „Zelus“ bezeichnet.

Im religiösen Kontext der Bibel umschreibt dieser Begriff die aus der göttlichen Zuwendung zum Menschen[3] stammende Haltung, die sich strikt gegen Untreue und Gleichgültigkeit wendet. Es geht also keinesfalls um einen unbeherrschten Gefühlsausbruch, um blinde Wut oder Jähzorn („Ira“). Aber, so muss man dann fragen, wo ist die Grenze? Worum geht es denn nun eigentlich, wenn wir von dem Laster des Zorns reden?

Das Laster der Massen

Der römische Philosoph Seneca[4] betonte schon im ersten Jahrhundert, der Zorn sei „die einzige Leidenschaft, die bisweilen in den Staat eindringt“[5]. Alle anderen Laster und Leidenschaften erfassten die Menschen einzeln, der Zorn hingegen stecke oft die Massen an: „Von ein paar Worten aufgehetzt“ würden ganze Völker zu Gewalt und Aufruhr verführt. Für Seneca ist der Zorn eine Art Geisteskrankheit, allerdings eine enorm ansteckende.

Als Gegenmittel empfiehlt der antike Philosoph Friedenserziehung, Maßhalten und Vernunftgebrauch. Diese Mittel dürften aber bestenfalls vorbeugend wirken; und die Lebenserfahrung lehrt, dass sie kaum ausreichen, um beispielsweise aufgehetzte Massen zu Mäßigung und Vernunft zurückzuführen. Auch das individuelle Lebensschicksal des Seneca[6]stimmt nicht optimistisch, dass dem Zorn und der Verblendung mit dem Appell an Vernunft und Maß beizukommen ist.

Außerdem: Auch wenn es einleuchtet, dass der Zorn ein besonders ansteckendes  Laster ist, das durch die Jahrhunderte unendlich viel Schaden und Elend angerichtet hat (und weiter anrichtet), so ist diese öffentliche Wirkung auf die Massen doch etwas Sekundäres, Abgeleitetes. Immerhin zeigt uns die unheilvolle Massenwirkung, warum der Zorn mit dem Wort „Todsünde“ wohl doch gut beschrieben ist.

Conditio Humana

Nach dem anfänglichen Eindruck, dass es nicht ganz so schlimm sein könne mit dem Zorn und dass wir schließlich nur Menschen sind und deshalb auch „alle mal eine Wut kriegen“ dürfen, wird uns nun schon ein wenig mulmig. Offenbar steckt in diesem Laster ein düsterer Kern und ein ganz erhebliches Zerstörungspotential. Das mit der Massenhysterie, dem Aufputschen von Hass und Feindschaft kommt uns nur allzu bekannt vor.

Aber machen wir uns nichts vor – es geht hier nicht nur um ein gesellschaftliches Problem; es betrifft jeden einzelnen von uns persönlich. Zorn, Wut, Unbeherrschtheit, Unversöhnlichkeit sind im Kern individuelle Laster. Erst dann kommt – erschwerend und verschärfend – hinzu, dass der Zorn wie ein Virus von wenigen oder gar von Einzelnen ausgehend die ganze Gesellschaft, ein ganzes Volk erfassen und „krank machen“ kann. Wir stehen wieder einmal vor der dunklen Seite der „Conditio Humana“[7]

Nichts Menschliches ist uns fremd…

In der Tradition des Thomas von Aquin[8] wird in der Regel das Lasterhafte, Boshafte des Zorns (als Hauptsünde) darin gesehen, dass er vernunftwidrig und maßlos wirkt und dadurch viele andere Übel und zerstörerische Folgen generiert. Anders als die stoischen Philosophen wie Seneca, verwirft aber die scholastische Theologie und Philosophie – und in ihrer Folge die Lehre der Kirche – keineswegs die Leidenschaften als solche. Sie gehören zum Menschen und sind nicht in sich schlecht.

Wie wir bereits am Beispiel des berechtigten (u.U. sogar „heiligen“) Zorns sahen, gehört es zum menschlichen Wesen[9] Gefühle zu haben. Sie gewissermaßen abschalten zu wollen, einen Status der Emotionslosigkeit bzw. Gefühlsarmut herzustellen, ist zumindest keine dem Menschen gemäße Verfahrensweise. Geschichte und Lebenserfahrung lehren uns, dass es auf Dauer nicht gut geht, solcherart die menschliche Natur verändern zu wollen.

Es ist das Vernunftwidrige und Maßlose am Zorn, das ihn so zerstörerisch macht – wenn er blindwütig wird und unversöhnlich macht, unverhältnismäßig und selbstbezogen. Und auch das kennen wir alle – aus dem Freundes- und Verwandtenkreis, leider oft genug aus der eigenen Familie. Da gibt es einen Streit, gegenseitige Vorwürfe und Verletzungen, und der Streit wird über Jahre hingezogen, selbst wenn der ursprüngliche Anlass den Beteiligten kein Leid mehr antut und oft kaum noch in Erinnerung ist.

Wenn wir jetzt kurz innehalten und nachdenken, dann fällt ganz sicher jedem von uns sehr schnell ein solcher Fall von versteinertem Konflikt und unversöhnlichem Groll im Freundes- oder Familienkreis ein. Dabei weiß sich jede Seite im Recht: „An mir liegt es nicht…“ Man wäre ja zur Aussöhnung bereit, aber der Andere… Ist man nicht längst mehrfach auf den Anderen zugegangen? Aber nun ist es eben nicht mehr zu ändern… Nicht selten wird der unversöhnliche Groll noch moralisch relativiert und rationalisiert: Es ist besser wir vermeiden jeden Kontakt, so lebt der Streit nicht wieder auf…

Verhärtung des Herzens durch Zorn

Mit solchen Ausreden leben selbst nahe Verwandte oft aneinander vorbei, für Monate, für Jahre, sogar für Jahrzehnte; manchmal in derselben Stadt. Da gibt es keinen Kontakt mehr zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern oder einst engen Freunden. Und jeder ist sich seines guten Gewissens gewiss. „An mir liegt es nicht…“ Solche Unversöhnlichkeit gibt es leider auch bei moralisch gefestigten, gebildeten, gutartigen Menschen, solchen, die das Laster des Zornes und der Unversöhnlichkeit bei anderen schnell und treffend erkennen und charakterisieren.

Wenn es aber um das eigenen Erleben geht, dann blendet der Zorn die Sicht und man nimmt sich selbst nicht mehr vernunftgemäß wahr. Fehden und Unverträglichkeiten in Familien sind eine noch häufigere Erscheinungsform des Zornes, als die für jeden sichtbaren Formen dieses Lasters in der Gesellschaft oder zwischen Gruppen und Völkern. Die schwärende Wunde des Nicht-Vergeben-Könnens wirkt im Verborgenen fort, und zwar um so stärker, je mehr sie geleugnet wird. Um noch einmal einen medizinischen Vergleich zu verwenden: Die Weigerung, sich das Übel einzugestehen, führt irgendwann dazu, dass es unheilbar wird. Und damit wird schlaglichtartig erkennbar, warum das Laster Zorn/Ira tatsächlich zu Recht als Todsünde bezeichnet wird.

Die Abhilfe

Das Neue Testament berichtet uns davon, dass Petrus von Jesus wissen wollte, wie oft man seinem Nächsten vergeben müsse[10]. Vermutlich hatten die Jünger sich schon selbst Gedanken gemacht und dabei auf gängige Weisheitslehren oder Lebensregeln zurückgegriffen: Muss man seinem Bruder sieben Mal vergeben? Jesu bekannte Antwort „nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal“ darf man getrost mit „immer wieder“[11] übersetzen. Indem er jede quantifizierende Ethik durch Überhöhung ad absurdum führt, vermittelt Jesus seinen Jüngern die Einsicht, dass es für die Bereitschaft zur Versöhnung niemals ein „genug“ oder „Schluss jetzt!“ geben kann.

Dabei handelt es sich nicht um eine blauäugige Schönwetter-Ethik, ein allgemeines „seid-nett-zueinander“, das dem Härtetest des richtigen Lebens kaum standhalten würde, sondern um eine existenzielle moralische Grundhaltung, die sich auch angesichts der Abgründe des menschlichen Charakters behauptet. Der heilige Ernst des christlichen Liebesgebotes, das uns hier in der Form der Vergebung vor Augen tritt, zeigt sich in der Forderung Jesu, nicht zu Gottes Altar zu treten, ohne sich vorher mit seinem Nächsten versöhnt zu haben[12]: „Versöhne Dich zuerst mit Deinem Bruder…“

Es ist schwer vom Zorn abzulassen, wenn man sich im Recht fühlt, oder als Opfer. Wollen wir unsere Haltung korrigieren, oder einem schädlichen Verhalten vorbeugen, dann sollten wir uns etwas Einfaches, Konkretes vornehmen[13]. Wir alle haben in unserem Umkreis jemanden, mit dem wir uns nicht verstehen und an den wir nicht denken können ohne – offen oder unterdrückt – Zorn zu empfinden. Nehmen wir uns vor, dieser Person gegenüber eine kleine Geste zu machen – ein freundliches Wort, eine positive Erwähnung, eine versöhnliche Nachricht.

Oft reicht schon eine ganz normale Ansprache im Alltag, ohne  säuerlichen Unterton, eine Frage ohne lauernden Blick aus unterdrückter Abneigung. Am besten knüpfen wir einfach „normal“ ein Gespräch über etwas Alltägliches an, denn das kann heilsamer wirken, als eine lange mühsame Aussprache. Und wenn wir uns dabei überfordert fühlen, dann denken wir einfach daran, dass Jesus sogar seinen Henkern verziehen hat.


[1]Damit käme man u.U. schon dem Laster der „Trägheit/ Acedia“ nahe (worüber noch zu handeln ist).

[2]Joh. 2 17: „Seine Jünger erinnerten sich an das Wort der Schrift: Der Eifer für dein Haus verzehrt mich“ (Zelus domus tuae comedit me).

[3]Nur verständlich aufgrund der Tatsache der Liebe Gottes zu den Menschen – was das „Alleinstellungsmerkmal“ des biblischen Gottesbildes unter allen Religionen ausmacht.

[4]Lucius Annaeus Seneca, ca. 1-65 n. Chr. Stoischer Philosoph, zeitweise Staatsmann; bekannt auch als Erzieher des Kaisers Nero.

[5]L. A. Seneca, De ira. III. Buch, II, 2: „… hic unus affectus est qui interdum publice concipitur“.

[6]Er wurde von Nero unter dem Vorwand der angeblichen Beteiligung an einer Verschwörung zum Selbstmord gezwungen.

[7]Conditio Humana: Die existentielle Situation des Menschen als sterbliches, gefallenes Geschöpf.

[8]Dazu ausführlich in seiner „Summa Theologiae“. Vgl. a. Robert Barron https://www.youtube.com/watch?v=wG4VF0jU568&ab_channel=DioceseofRaleigh Minute 24.20 ff

[9]Der Mensch als Geist-Leib-Seele-Einheit in bester abendländischer Tradition.

[10]Matth. 18, 21f. Vgl. a. Lk 17,4.

[11]Schon allein die Sieben als „Zahl der Fülle“ enthält ein Element der Entgrenzung und den impliziten Hinweis, dass es kein schematisches Messverfahren geben kann, an dem Vergebung und Versöhnung Maß zu nehmen hätten.

[12]Matth. 5, 23f.

[13]Robert Barron: https://www.youtube.com/watch?v=wG4VF0jU568&ab_channel=DioceseofRaleigh Min. 30.16 ff.