In seinem berühmten Roman „Quo vadis“greift Henryk Sienkiewicz[1] eine alte Legende auf: In den Wirren der neronischen Verfolgungen in Rom macht sich Petrus auf Drängen der von Furcht und Schrecken verunsicherten Gemeinde auf den Weg aus der Stadt, um sich in Sicherheit zu bringen. Auf der Via Appia begegnet ihm Christus, der in die entgegengesetzte Richtung geht. Auf die Frage des Petrus „Quo vadis, Domine?“ (wohin gehst Du, Herr?) antwortet Christus: „Nach Rom, um mich noch einmal kreuzigen zu lassen“. Nach dieser erschütternden Vision kehrt Petrus um und stellt sich seiner Berufung, erleidet schließlich den Märtyrertod. Aber was sagt uns dieser Roman aus dem 19. Jahrhundert in der gegenwärtigen Krise? Und was nützt uns so eine alte Legende? Vielleicht nur so viel, dass wir uns nicht einfach mit Grausen abwenden. Und wir können auch eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage finden: Was tun?

Erste Hilfe …

Die erste Antwort auf die Frage, was zu tun sei, musste von jenen gegeben werden, die in der Kirche Leitungsverantwortung haben: Von der Betreuung von Missbrauchsopfern über die Etablierung einer „Null-Toleranz-Politik“ bis zu Präventionsmaßnahmen. Vieles ist in den letzten zehn bis zwölf Jahren bereits geschehen; die maßgebliche Rolle für die ganze Kirche spielte dabei Papst Benedikt XVI. Aber auch in Deutschland ist die Zeit des Erstarrens im Angesicht des Bösen, der Naivität oder Nachlässigkeit in den Reaktionen vorbei. In vielen katholischen Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen, ganz besonders aber an den katholischen Schulen[2] gibt es längst detaillierte Konzepte zur Vorbeugung und Verhinderung von Übergriffen. Aber das alles sind gewissermaßen nur „Erste-Hilfe“-Maßnahmen.

… und Intensivstation

Wenn es stimmt, dass die tiefere Ursache der Missbrauchsverbrechen eigentlich die Apostasie ist, der Abfall vom Glauben (s.o.), dann muss noch mehr geschehen als organisatorische Sanierung. Universitätstheologie und Priesterausbildung müssen sich von den verhängnisvollen Reflexen befreien, die sie über Jahrzehnte immer mehr vom kirchlichen Lehramt entfremdet und in eine Art „los-von-Rom“-Stimmung haben treiben lassen. Zu verführerisch war offenbar der Applaus des gesellschaftlichen Umfelds, das jeden Akt der Verweltlichung und Unterwerfung belobigte, zu verlockend das Gefühl, mit dem permissiven, vermeintlich progressiven Zeitgeist mitschwimmen zu können. Bis es zu spät war…

Will die Kirche in Deutschland zu ihrer alten Sicherheit zurückfinden, ihr spirituelles „Alleinstellungsmerkmal“ wiedergewinnen, dann sollte sie dem Rat folgen, den Benedikt XVI. schon 2011 in seiner – geradezu prophetischen – „Freiburger Rede“[3] formuliert hatte: Die Kirche bedarf der „Entweltlichung“; nicht im Sinne der Weltflucht, sondern als Rückbesinnung auf ihre eigentliche Mission[4].

In der Reha

Die „Freiburger Rede“ ist oft (bewusst?) missverstanden worden als angebliches Signal zum Rückzug aus der Gesellschaft und Flucht in eine Binnenwelt. Aber das kann nur behaupten, wer den Text nicht gelesen hat. Es geht ja gerade um die Rückkehr des Katholischen, die Abkehr vom rein Funktionalen, die Ausrichtung auf das Bekenntnis, auf das Wahre statt auf das Wohlfeile. Gerade weil die Kirche nicht genug „eigene Leute“ hat, um sämtliche Posten und Funktionen in allen Krankenhäusern, Heimen und Bildungseinrichtungen mit Gläubigen zu besetzen, muss sie sich auf die Kernaufgaben konzentrieren, auf die Verkündigung und Weitergabe des Glaubens. Das authentische Glaubenszeugnis der Wenigen sollte dann auf die Arbeit der Vielen ausstrahlen – und nicht umgekehrt… Und das ist noch längst nicht alles.

Der Weg zur Genesung

Um bei der Metapher zu bleiben: Es reicht nicht, dass Erste Hilfe geleistet, eine Notoperation vorgenommen und eine Heilbehandlung eingeleitet wird. Niemand wird gesund, wenn nicht Familie und Freunde sich kümmern und helfen. Und die Kirche lebt ja vor allem in den Familien und den Gemeinden. Gerade dort muss „Heilung“ ansetzen, Ermutigung und Stärkung des Glaubens erfolgen.

Gottlob gibt es nicht nur „Kirchenpolitiker“, sondern auch etliche Graswurzel-Bewegungen von Gläubigen, geistliche Gemeinschaften, Initiativen in Gemeinden. Um nur einige (ganz unterschiedliche) Beispiele herauszugreifen: Seit dem Kölner Weltjugendtag von 2005 finden sich regelmäßig junge Menschen in Kirchen zu nächtlicher Anbetung vor dem Allerheiligsten zusammen („Nightfever“[5]). Sie sind selbst organisiert und ihnen geht es nicht um Wirkung in den Medien, sondern ganz einfach um die Nähe zu Christus. Wenn das nicht Kirche ist!

Neueren Datums ist die Initiative junger Frauen „Maria 1.0“[6], ursprünglich entstanden als Reaktion auf schockierende und als destruktiv empfundene Verirrungen einer anderen, kirchenpolitisch fixierten Gruppe. Was sie bei Maria 1.0 tun, ist „Kirche pur“: Gebet, Apostolat, gelebter Glaube.

Die Initiative „Neuer Anfang“[7] nimmt sich des ganzen Spektrums der Fragen an, wie Kirche in der gegenwärtigen Krise erneuert und gestärkt werden kann, statt vor dem aggressiven Zeitgeist immer weiter zurückzuweichen.

Und natürlich bieten die großen geistlichen Bewegungen unserer Zeit nicht nur Trost und Hilfe in Notzeiten, sondern auch kontinuierliche Bildungsangebote[8]. Alle not-wendigen Mittel liegen bereit. Nutzen wir sie!

Von Hirten und Herden

Aber auch wer weder Zeit noch Interesse hat, sich geistlichen Bewegungen oder Gruppen anzuschließen oder ihre Angebote zu nutzen, kann doch auch selbst einen segensreichen Beitrag leisten, fast mühelos – zum Beispiel einfach dadurch, dass man den eigenen Gemeindepfarrer nicht allein lässt. In einer Zeit, in der katholische Priester Freiwild für maliziöse Attacken und Häme aller Art sind[9], wird jede kleine Geste der Sympathie Wunder wirken. Jeder kann in seiner Gemeinde etwas dazu beitragen, dass der Priester sich nicht verlassen fühlt; ein nettes Wort, eine aufmunternde E-Mail, eine Einladung zum Kaffee, ein Lob für eine gelungene Predigt… Was banal klingt, hat doch eine segensreiche Wirkung. So können außerdem auch die Gläubigen in den Gemeinden wieder zusammenfinden und sich ein wenig um ihre „Hirten“ scharen, die dadurch sinnfällig erfahren, dass sie nicht qua „Sippenhaft“ mitverurteilt und pauschal verdächtigt werden.

Wohin gehen wir?

Es ist eine Zeit der Entscheidung. Gehen wir, ermüdet vom elenden, nicht enden wollenden Skandal, den Weg des geringsten Widerstands und beugen uns dem Zeitgeist, schwimmen mit dem Strom? Dann sind uns Lob und Schulterklopfen gewiss (für einige Zeit…). Aber der Weg des geringsten Widerstands führt stets bergab. Wir stehen in unserer Gesellschaft vor tiefen ethischen Abgründen, von der endgültigen Liquidierung des Familienbegriffs und einer zunehmend unduldsamen Genderideologie, über die völlige Freigabe der Abtreibung bis hin zur Euthanasie, und anderen moralischen Aberrationen. Das kann entmutigen. Aber wir können uns auch ein Beispiel an den vielen großen Heiligen der Kirchengeschichte nehmen, die sich in schlimmen Zeiten nicht beugen und verbiegen ließen. Dazu brauchen wir vielleicht ein wenig Mut, angesichts der düsteren Szenerie, aber eigentlich nur etwas Gottvertrauen.

Es ist fast wie in dem Roman „Quo vadis“. Christus ist vor unseren Augen unter die Räuber gefallen; sie haben den „Leib Christi“ gegeißelt und besudelt. Wir dürfen jetzt nicht entsetzt und verängstigt davonlaufen, sondern wir müssen uns aufmachen, notfalls mitten ins Getümmel, und dem Übel und seinen Folgen widerstehen. Das mag uns auch einmal etwas kosten – Zeit, Mühe, vielleicht das Ertragen von Beschimpfungen, womöglich auch Nachteilen. Aber das Lebenkostet es uns nicht. Im Gegenteil.


[1]Polnischer Schriftsteller (1846-1916), Literaturnobelpreisträger 1905. Sein Bestseller „Quo vadis“ wurde später auch als Film weltberühmt.

[2]Darin sind die katholischen Schulen den staatlichen wiederum deutlich voraus.

[3] https://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2011/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20110925_catholics-freiburg.html

[4]Die Kirche und die Gläubigen sind natürlich immer mitten in der Welt, aber spirituell nicht „von“ der Welt, nicht weltlichen Vorstellungen hörig. Vgl. hierzu u.a. Jesu Abschiedsrede im Johannesevangelium, z.B. Joh. 17, 14 ff.

[5]https://nightfever.org/

[6]https://mariaeinspunktnull.de/

[7]https://neueranfang.online/

[8]https://opusdei.org/de-de/

[9]Vgl. a. den Beitrag https://erziehungstrends.info/die-kirche-im-dorf-lassen-3-von-suendenboecken-und-schwarzen-legenden