Politik, Medien und die allgemeine Öffentlichkeit in Deutschland sind stets in hohem Maße sensibilisiert, wenn es um Diskriminierung und „gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit“ geht, besonders gegen Minderheiten jeglicher Art. Schnell ist man mit Warnungen vor „Generalverdacht“ und „Pauschalurteilen“ bei der Hand, und kaum ist eine Meldung durch die Nachrichten gegangen, die eine gesellschaftliche Gruppe oder gar eine (nichtchristliche) Religionsgemeinschaft in ein schlechtes Licht rücken könnte – schon gehen die politisch-moralischen Warnlampen an und die erhobenen Zeigefinger schießen empor.: Nicht verallgemeinern, nicht pauschalisieren! Unbedingt differenzieren…!
Unbedingt differenzieren…!
Es gibt allerdings eine Ausnahme: Katholiken sind die einzige Minderheit in unserer Gesellschaft, der gegenüber es kein Diskriminierungsverbot gibt und keinen gesellschaftlichen Zwang zur Mäßigung und Fairness im Umgang. Es ist kaum zu fassen, wie ungefiltert Verachtung, Zorn, Hass in pauschaler Weise über alles ausgegossen werden darf, was noch ernsthaft katholisch ist.
Es ist tatsächlich so, wie es Papst Benedikt XVI. in einem anderen Zusammenhang einmal feststellen musste:
Gegenüber dem Papst (und man darf ergänzen: gegenüber der Katholischen Kirche insgesamt) gibt es in unseren westlichen Gesellschaften eine „sprungbereite Feindseligkeit“, der jeder Anlass recht und jeder Fehltritt lieb ist, mit dessen Hilfe man pauschal und hemmungslos auf die Kirche und ihre Repräsentanten einschlagen kann. Warum ist das so?
Wo viel Licht ist…
Wer sich – aus welchen Gründen auch immer – für eine kohärente Ethik, ein stringentes System moralischer Werte und insbesondere für eine klare und unzweideutige Sexualmoral interessiert, der wird wie selbstverständlich an die Katholische Kirche denken, und dort wird er auch fündig. Durch alle Wirrungen der Kirchengeschichte hindurch, trotz aller Anfechtungen durch Krisen, Schismata und Verfolgungen, ist das auch heute selbstverständlich – egal ob man es gut oder schlecht findet, es ist „irgendwie klar“, opinio communis, conventional wisdom, ein secret de Polichinelle… Und mit dem Jahrhundertwerk des Katechismus der Katholischen Kirche wurde von den Jahrhundertpäpsten St. Johannes Paul II. und Benedikt XVI. das Grundgerüst – nicht nur der Ethik, die allein gar nicht bestehen könnte, sondern des ganzen katholischen Glaubens – noch einmal für jedermann leicht zugänglich gemacht (1).
Wie kann es dann aber sein, dass die Kirche ausgerechnet an diesem Punkt unter so enormen Druck gerät – fast so, als handele es sich bei dem grauenhaften Missbrauchsskandal um Untaten, die direkt von der Kirche ausgehen, und nicht von schändlichen Verrätern in ihren Reihen, die doch genau diesen Glauben der Kirche lästern und mit Füßen treten? Wieso scheint es nie genug zu sein, was Synoden und Bischofskonferenzen beschließen, und warum heißt es stets pauschal „die Kirche ist schuld“ ?
Bevor wir aber dieser Frage nachgehen, geziemt es sich, zunächst einen Blick auf die aktuelle Kirchenkrise zu werfen, die sich vor unseren Augen zuzuspitzen scheint. Das ist der Schwere der Verbrechen und der Solidarität mit den Opfern geschuldet!
„Der Rauch Satans…“
Ein berühmter Ausspruch des 2018 heiliggesprochenen Papstes Paul VI. dürfte vielen Beobachtern unlängst wieder in den Sinn gekommen sein (jedenfalls jenen, die noch keine Allergie gegen traditionell kirchliche Sprache entwickelt haben). Dieser hatte im Jahr 1972 davon gesprochen, „der Rauch Satans“ sei durch einen Spalt in den Tempel Gottes eingedrungen. Papst Franziskus, der die bekannteste Enzyklika Pauls VI. („Humanae Vitae“, 1968) mit Nachdruck als „prophetisch“ gelobt hat, muss dies durch den Kopf gegangen sein, als er in seiner Buß-Predigt zum Ende der Kinderschutz-Konferenz im Vatikan davon sprach, dass jene, die das geistliche Amt missbrauchen und sich an Kindern vergehen, „Werkzeuge Satans“ sind (2). Und es lässt sich wahrhaftig kaum ein größeres Maß an Verworfenheit und Bosheit vorstellen, als der Missbrauch von Schutzbefohlenen durch Geistliche (das „geistliche“ an diesen entpuppt sich – um im Sprachduktus zu bleiben – quasi als „dämonisch“).
Schlimmer kann es für die Kirche nicht kommen. Klar ist auch: Kirchenzucht und Disziplinargewalt haben allzu oft versagt, aus welchen Gründen auch immer. Aber wie sinnvoll kann es sein, dass als Konsequenz aus diesem Versagen nun immer lauter verlangt wird, nicht die Moral wieder herzustellen, die Lehre, den Katechismus und das Kirchenrecht wieder durchzusetzen, sondern dass nun – ganz im Gegenteil – die Aufweichung der Moral verlangt wird?
Die Kirche ist in nicht geringem Ausmaß und nicht ohne eigenes Verschulden Opfer der sog. „sexuellen Revolution“ geworden, seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Hinzu kommen Glaubensverlust und Relativismus. An Universitäten und in Priesterseminaren wurde und wird die Lehre der Kirche relativiert, reduziert und ridikülisiert. Moraltheologie wurde vielfach zum Spielball eitler Gedankenexperimente, bei denen nichts Eindeutiges mehr übrig blieb. Bedeutende Theologen sonnen sich bis heute im Glanz der gesellschaftlichen Bewunderung für ihre Distanz zu „Rom“, ihren Abstand von der kirchlichen Lehre, ihre Bereitschaft, alte Normen und Werte über Bord zu werfen. Und nun soll die Lösung des Problems darin bestehen, auch offiziell von der kirchlichen Moral Abschied zu nehmen, sie dem Zeitgeist und der permissiven Gesellschaft anzupassen? Das wäre wie das Löschen eines Brandes mit Benzin.
Von Hitchcock bis Watzlawick
Diese verdrehte Logik erinnert mich an einen berühmten Hitchcock-Film („Cocktail für eine Leiche“), in dem zynische, egomanische Studenten die kalten Gedankenexperimente ihres selbstverliebten Professors für bare Münze nehmen und einen „perfekten Mord“ an einem vermeintlich minder wertvollen Kommilitonen begehen (3). Am Ende bleibt nur ein Akt der Barbarei, und ein geistiger Brandstifter, der die Welt nicht mehr versteht: Wie konnten sie nur so etwas aus meinen Theorien ableiten…?
Der berühmte österreichisch-amerikanische Philosoph und Soziologe Paul Watzlawick beschreibt ein anderes Phänomen, das im Zusammenhang dieser Betrachtung relevant ist: Es gibt im zwischenmenschlichen Bereich und in der Gesellschaft im Allgemeinen das verblüffende Phänomen, dass erfolglose Strategien und Lösungsansätze bei ihrem Scheitern nicht etwa verworfen und durch andere ersetzt werden, sondern – nur leicht modifiziert – erneut zur Anwendung kommen. Unsere Strategie hat nicht gewirkt? Dann müssen wir dasselbe noch einmal tun, und noch stärker! Wieder kein Erfolg? Weiter versuchen! Kein Durchbruch? Jetzt erst recht, „mehr desselben“(4).
Diese „Mehr-desselben-Strategie“ scheint mir bei der Debatte um die Kirche und ihre Fehler geradezu inbrünstig verfolgt zu werden. Ob Missbrauch oder Finanzskandal, ob Kirchenaustrittswelle oder politische Debatte – immer erschallt der selbe Ruf nach Abschied vom Katechismus, los von Rom, weg von alter Moral, Schluss mit den Dogmen…
Progressiver Ablasshandel
Auch durchaus kirchenkritisch eingestellte Zeitgenossen erkennen zuweilen an, dass die Katholische Kirche sich alle Mühe gibt, den Missbrauchsskandal aufzuklären und Konsequenzen zu ziehen (5), mithin alles zu tun, um eine Wiederholung unmöglich zu machen. Und natürlich steht es der Kirche gut an, sich hier keine Nachlässigkeiten zuschulden kommen zu lassen. Wenn auch nur ein winziger Teil der tatsächlichen Fälle sexuellen Missbrauchs in unserer Gesellschaft von Geistlichen begangen wurde, die überwältigende Mehrzahl also woanders vorkam und weiter passiert, kann sich natürlich die Kirche nicht hinter Zahlen verstecken, oder womöglich mit dem Finger auf andere weisen (6). Die Kirche ist nun einmal die einzige gesellschaftliche Großgruppe, die tatsächlich nur Mea culpa sagen kann, und zwar für alles, was in Verantwortung ihrer Mitglieder geschehen ist oder nicht verhindert wurde – sie kann sich, mit anderen Worten, niemals „herausreden“, ganz anders als andere Organisationen, Parteien, Vereine, Sekten oder sonstige Religionsgemeinschaften, ganz zu schweigen von der Unzahl von Fällen im privaten Umfeld.
Aber selbst wenn wir diesen (für die Kirche unvermeidlichen) „moralischen Verstärkereffekt“ in Rechnung stellen, bleiben wir doch kopfschüttelnd stehen, denn vor unseren Augen präsentiert sich eine Art „abuse mainstreaming“, ein Prinzip „de clericis nil nisi male“. Mit anderen Worten: Beim Thema Kirche redet man jetzt möglichst nur noch über Missbrauch. Nur der Kirchenmann vermag sich aus diesem Strudel zu befreien, der bereit ist, einen progressistischen Ablass zu kaufen, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, mit den Wölfen zu heulen…
Aber ist der Missbrauch wirklich das typische Kennzeichen der Kirche unserer Tage – gar „Teil ihrer DNA“ (7)? Ist die Katholische Kirche tatsächlich ein Hort des Missbrauchs und der homosexuellen Ausschweifung? Wie kommt es dann, dass ich in meinem ganzen bisherigen Leben noch niemals jemanden getroffen habe, der so einen Fall in der Kirche selbst erlebt hat? Alles nur Zufall? Glück gehabt?
Sapere aude – bediene Dich Deines eigenen Verstandes
Meine eigene Lebenserfahrung zugrunde zu legen mag zu subjektiv und nicht wissenschaftlich gedacht sein. Andererseits werden wir ja immer wieder in der Kirche ermahnt, unsere „Lebenswirklichkeit“ einzubringen, zu beachten, ernst zu nehmen. Außerdem ist es ein gutes aufklärerisches Prinzip, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (8) Ich bin auch nicht zu einem sacrificium intellectus (9) bereit, nur um nicht anzuecken. Denn in all den Jahren und Jahrzehnten, in denen ich Mitglied von insgesamt zwölf Kirchengemeinden in Deutschland und in sieben anderen Ländern auf drei Kontinenten war, habe ich jedenfalls nicht einen einzigen Menschen getroffen, weder daheim, noch in Übersee, der von ständigen sexuellen Ausschweifungen oder gar Übergriffen von Geistlichen wusste, oder der auch nur jemanden kannte, der dies bezeugt hätte. Und das, obwohl über die Jahre hin das „Image“ der Kirche nicht gerade besser wurde, Enthüllungen ohne Ende publiziert und diskutiert wurden und Vorwürfe gegen die Kirche und ihre Amtsträger längst selbstverständlich waren.
Ich habe in meinem Leben sogar schon Leute getroffen, in deren Familien Mordopfer zu beklagen waren, auch politisch Verfolgte, die Jahrzehnte im Gefängnis gesessen hatten. Nur von der überall massiven moralischen Verderbtheit des katholischen Klerus habe ich nie etwas gemerkt, kein Wort gehört, immer nur die wenigen Unbescholtenen getroffen…? Schon rein statistisch gesehen ist das höchst unwahrscheinlich. Da es nun aber unzweifelhaft schweres Fehlverhalten von Geistlichen gab, kann ich rein subjektiv nur zwei mögliche Erklärungen für meine abweichende lebensweltliche Erfahrung finden: Entweder wird das rein zahlenmäßige Ausmaß der Missbrauchsfälle falsch dargestellt, oder deren Gewichtung und Wertung in den Medien ist überdimensional. Oder beides…
(Fortsetzung folgt)
(1) Den Katechismus der Katholischen Kirche gibt es auch als Kompendium (ISBN: 3629021409 EAN: 9783629021403 Kompendium. Pattloch Verlag GmbH + Co).
(2) https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2019-02/kinderschutzkonferenz-rede-papst-franziskus-missbrauch-vatiab.html
(3) Originaltitel: „Rope“. 1948.
(4) Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein. Piper, München 1983, ISBN 3-492-02835-7.
(5) https://lnkd.in/dnkC3ve
(6) Die Bundesfamilienministerin beziffert Fälle sexuellen Missbrauchs in Deutschland in Hunderttausenden pro Jahr, noch ohne Dunkelziffer, ganz ohne jeden Zusammenhang mit kirchlichen Milieus. Seltsam geringes Interesse herrscht in der deutschen Öffentlichkeit an Missbräuchen in anderen Kulturkreisen, die nun auch bei uns heimisch werden. Was ist z.B. mit dem höllischen Brauch „Bacha bazi“ in Afghanistan und anderen ähnlich geprägten Ländern? Dabei geht es um unaussprechlichen, systematischen, massenhaften sexuellen Missbrauch von Jungen. Auch politische Parteien, die moralisch immer ganz stark auftreten, haben viele Jahre lang offen Pädophilenringe in ihren Kreisen geduldet, diesen Tätern sogar Zugriff auf Parteiämter und Programme gewährt. Keiner ihrer namhaften Politikerinnen und Politiker scheint dadurch irgendwelche Laufbahnprobleme zu bekommen. Eine selbstgemachte Studie, eine kurze Medienschau – Thema abgehakt.
(7) So äußerte sich allen Ernstes Anfang 2019 ein junger deutscher Bischof, dessen Name hier verschwiegen sei. Es ist bisher unerklärt, wie er in einem solchen Umfeld Karriere machen konnte und wollte.
(8) https://de.wikipedia.org/wiki/Sapere_aude
(9) https://de.wikipedia.org/wiki/Sacrificium_intellectus