Bereits im Juli 2023-Newsletter warnte das iDAF davor, dass der aktuelle Geburtenrückgang dazu führen könnte, dass Infrastrukturangebote für Kinder eingespart werden, zulasten von Familien. Diese Gefahr scheint auch die Bertelsmann-Stiftung erkannt zu haben. In einer aktuellen Publikation zum Lehrkräftebedarf an Grundschulen stellt sie dar, dass die Kultusministerkonferenz (KMK) in ihrer Prognose der Schülerzahlen von unrealistisch hohen Geburtenzahlen ausgeht.

Schon im Jahr 2022 lag die tatsächliche Geburtenzahl um rund 23.000 Kinder unter der „Prognose“ der KMK, die diese noch im Jahr 2023 (!) veröffentlicht hatte. Für das Jahr 2023 liegt noch keine exakte Geburtenzahl vor. Nach Schätzung des Statistischen Bundesamtes wird die Zahl zwischen 680.000 und 700.000 liegen. Auch für 2024 und die Folgejahre geht die Bertelsmann-Stiftung von einer Überschätzung der Schülerzahl in dieser Größenordnung aus (1). Das ist auch plausibel und so berechnet die Bertelsmann-Stiftung ab dem Schuljahr 2028/29 wesentlich niedrigere Schülerzahlen (in den Grundschulen) voraus als die Kultusminister. 

Weniger Schüler bedeuten rein rechnerisch betrachtet – auch einen geringeren Bedarf an Lehrern. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass das Schüler-Lehrer-Verhältnis konstant bleibt. Angesichts der prekären Lage an den Schulen ist dieses Verhältnis aber jetzt schon ungünstig, der Schlüssel zu knapp bemessen. Der Bedarf an Lehrern ist zudem noch von anderen Faktoren abhängig. Besonders davon, wie viele Lehrer ersetzt werden müssen, weil sie den Job aufgeben, in Elternzeit oder in den Ruhestand gehen. Wie viele Lehrer nachkommen, ist noch schwieriger vorauszuberechnen. Niemand weiß genau, wie viele Lehramtsstudenten später tatsächlich Lehrer werden wollen, wie viele ihr Studium oder später ihr Referendariat abbrechen (2).

Tatsache ist, dass die Zahl der Grundschullehramtsstudenten in den letzten Jahren stark angestiegen ist. Davon ausgehend kommen die Bertelsmann-Autoren zu der Schlussfolgerung, dass ab 2024 ein „Überangebot“ zu erwarten sei, dass sich bis 2035 auf etwa 46.000 Lehrkräfte summiere (3). Dass es schon bald „zu viele“ Grundschullehrer geben könnte, erscheint angesichts der gegenwärtigen Unterrichtskrise kaum glaubhaft, geradezu abwegig. Schon zu lange leidet vielerorts die Elementarbildung unter dem Mangel an qualifizierten Lehrern. Der zunehmende Einsatz von Lehrkräften ohne anerkannte Lehramtsprüfung (Seiten- und Quereinsteiger) markiert dabei nur die statistisch erfasste die Spitze des Eisbergs (4). Das ganze Ausmaß des Mangels bleibt unter dem Radar der veröffentlichten Statistiken und Berichte.

Die Wahrnehmungs- und Erfassungsdefizite beginnen schon bei der Definition von Unterricht: Dazu gehören heutzutage „Teamzeiten“ oder „Bewegungsstunden“, mit denen die „Unterrichtszeit“ künstlich verlängert wird. Die Grenzen zur Hortbetreuung („Hausaufgabenzeiten“ etc.) sind fließend. Wenn Lehrer krankheitsbedingt ausfallen, übernehmen auch Hortkräfte die Aufsicht in den offiziellen Unterrichtszeiten (5). Heutige Grundschulen sind – im Kontrast zu den Halbtagsgrundschulen in der „alten Bundesrepublik“ – weniger Bildungsinstitutionen als vielmehr Betreuungseinrichtungen. Ab 2026 gibt es einen Rechtsanspruch auf ganztägige Kinderbetreuung im Grundschulalter. Auf qualifizierten Unterricht gibt es keinen Rechtsanspruch. Dies obwohl aufgrund der Struktur der Schülerschaft der Bedarf an hochprofessionellem Elementarunterricht steigt. Das betrifft besonders den Deutschunterricht, insofern immer weniger Schüler mit Deutsch als Familiensprache aufwachsen. Dass als Folge dieser „Heterogenität“ das Leistungsniveau sinkt, dokumentieren zahlreiche Studien (IGLU, TIMMS, IQB u.a.).

Ein „Überangebot“ an qualifizierten Lehrern kann es angesichts dieser Bildungskrise gar nicht geben. Dies scheinen auch die Bertelsmann-Autoren so zu sehen. Sie fordern den, von ihren vorausberechneten, personellen „Spielraum“ für „Qualitätsverbesserungen“ zu nutzen. Um die Qualität der Primarbildung zu verbessern, bräuchte es allerdings dringend mehr Lehrkräfte für echten Unterricht. Die bloße Ausdehnung von Betreuungszeiten bringt keine besseren Lernergebnisse. Es bräuchte mehr Anstrengungen, um Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) an die nächste Generation weiterzugeben. Dies erfordert das Zusammenwirken von Schule und Elternhäusern, um Kinder zum Lernen und Üben zu motivieren. 

Die für Lernfortschritte so wichtige Kommunikation zwischen Eltern und Lehrern ist an Massenschulen allerdings schwierig. An kleinen, überschaubaren Schulen ist die Abstimmung von Lehrern und Eltern viel eher möglich. Ausgerechnet kleine, überschaubare Schulen sind durch den Geburtenrückgang gefährdet (6). Angesichts sinkender Schülerzahlen neigt die Politik dazu, Schulen zu fusionieren und zu schließen. Das geht besonders zulasten von Familien auf dem Land. Eine kritische Debatte hierzu ist nicht in Sicht. Es droht ein spätes Erwachen angesichts der forcierten demografischen Krise.


(1)    https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/01/PD24_035_124.html; Klaus Klemm/Dirk Zorn: Weniger Geburten, mehr Lehrkräfte. Spielraum für die Grundschulentwicklung, S. 6-7, 2024_Studie_Weniger_Geburten_-_mehr_Lehrkraefte.pdf. Siehe hierzu auch Abbildung „Einbruch der Geburtenzahlen 2022/23“. 

(2)    Klaus Klemm/Dirk Zorn: Weniger Geburten, mehr Lehrkräfte, a. a. O., S. 7 ff. Zum Geburtenrückgang siehe auch Abbildung „Einbruch der Geburtenzahlen 2022/2023“.

(3)    Ebd., S. 10.

(4)    https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/10/PD23_N053_21.html;

(5)    Die konkrete Schilderung beruht auf Erfahrungen von Eltern in Berlin. Die grundsätzliche Problematik zeigen auch Presseberichte, z. B.: https://www.bz-berlin.de/berlin/sollte-berlin-die-zahl-der-quereinsteiger-wieder-reduzieren; https://www.tagesspiegel.de/berlin/berlins-bildungskrise-verscharft-sich-regional-nur-noch-zehn-prozent-ausgebildeter-lehrer-nachwuchs-10469329.html.

(6)    Besonders ausgeprägt ist der Geburtenrückgang in Ostdeutschland: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Geburten/geburten-aktuell.html. Hierzu die Einschätzung des Oberbürgermeisters von Freital: „Der Rückgang der Geburtenzahlen ist dramatisch und bereitet uns großes Kopfzerbrechen. Wir beobachten das mit Sorge. Es stimmt, aktuell denken wir über den Abbau von Betreuungsplätzen nach und machen uns Gedanken, auf welche Einrichtungen wir uns konzentrieren.“ https://www.saechsische.de/freital/politik/freital-dies-sind-direkte-folgen-der-unsaeglichen-deutschen-wirtschaftspolitik-oberbuergermeister-uwe-rumberg-5944702-plus.html.

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