Es gibt in gesellschaftlichen Debatten um die Integration fremder Kulturen und Religionen einen beliebten Topos: Einer bestimmten Religion oder ihren Repräsentanten fehle die Erfahrung der europäischen Aufklärung. In der Regel wird so über den Islam gesprochen, mit unterschiedlicher Motivation, mal anklagend, mal entschuldigend. Und diese etwas bevormundend klingende Argumentation ist erstaunlicherweise auch in Zeiten eines doch recht rabiaten „dekolonialen“ Zeitgeistes nicht verschwunden. Zu selbstverständlich wird allgemein vorausgesetzt, die Aufklärung sei notwendig für alle Menschen und Kulturen. Daran ist – recht verstanden – auch Wahres, wenn es um Überwindung von Bigotterie und Unvernunft geht. Aber bei genauerem Hinsehen ist die Sache komplizierter.

Christentum light ?

Wenn in Deutschland öffentlich über europäische Werte und Traditionen geredet wird, dann fehlt dabei fast nie die „Aufklärung“. Auch dezidiert konservative, dem christlichen Abendland verpflichtete Politiker und Publizisten sprechen selten oder nie nur von den christlichen oder jüdisch-christlichen Wurzeln unserer Werte, sondern bemühen sich, möglichst rasch noch hinzuzufügen: „und die Aufklärung...“ Manchmal wird der Begriff durch einen nicht näher definierten „Humanismus“[1] bzw. „humanistische Traditionen“ ersetzt oder ergänzt. Aber gemeint ist mehr oder weniger dasselbe.

Damit sollen natürlich Akzeptanz und Anschlussfähigkeit für das Gesagte geschaffen werden. Außerdem ist sonst das Risiko recht hoch, zügig „ge-cancelt“ zu werden, weil man sich zu sehr als Christ „outet“ – bzw. als Christ ohne mildernden Zusatz. Und da ist es wieder, dieses Problem. Wieso muss das Christliche immer ergänzt, gemildert, relativiert werden? Der Eindruck ist sehr deutlich, dass sich mit dem Christentum in Reinform niemand mehr sehen lassen will, dem an einer öffentlichen Wirkung gelegen ist. Wie kommt das?

Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Aufklärung?[2]

Nach Immanuel Kants klassischer Definition ist „Aufklärung“ zunächst nichts anderes, als „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Dieser Satz steht natürlich als solcher in keinerlei Gegensatz zur christlichen Lehre; er enthält sogar deutliche Spuren christlichen Erbes[3]. Noch stärker ist diese Parallele beim „kategorischen Imperativ“[4] Kants, der seine christliche Abstammung erst recht nicht verleugnen kann[5]. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich auch, dass die frühe Aufklärung und ihre Vorläufer keineswegs von einem generell antichristlichen Ressentiment getrieben waren. Dass auch der moderne Begriff der Menschenrechte nicht „gegen die Kirche erfochten“ werden musste, sondern im Christentum wurzelt, wurde an anderer Stelle bereits gezeigt[6]. Woher also der doch oft scharfe Gegensatz?

Écrasez l’infâme ?

Der antichristliche Affekt der europäischen Aufklärung ist ursprünglich weniger in der Sache begründet, als im persönlichen Affekt mehrerer großer Philosophen, vor allem Voltaires. Er  hatte nicht nur eine starke Abneigung gegen die Kirche seiner Zeit, sondern einen regelrechten Hass auf die christliche Religion insgesamt. Eine auf Voltaire gegründete Aufklärungsphilosophie setzt sich dezidiert und permanent gegen das Christentum ab. Bei Voltaire strahlte der antichristliche Furor auch schon mal auf das Judentum ab, das er mit schlimmen Invektiven bedachte. Sein berühmt-berüchtigter Schlachtruf „Écrasez l’infâme“ („zerschmettert die Niederträchtige!“) bezog sich allerdings explizit und exklusiv auf die Katholische Kirche. In die Tat umgesetzt wurde das dann erstmals durch die Französische Revolution, und seither ist der antireligiöse, vor allem anti-christliche Strang der Aufklärung dominierend, wenn auch nicht immer so gewalttätig wie bei den Jakobinern.

Ein anderer Aufklärer des 18. Jahrhunderts mit entschieden und generell Christentums- kritischem Programm war der englischen Autor Edward Gibbon, der in seiner enorm einflussreichen Geschichte des Untergangs des Römischen Reiches die Schuld für dessen Zerfall in großen Teilen dem Christentum zuschob, das er als verbohrte, bigotte und unkultivierte Sekte karikierte und einem imaginären edlen Heidentum als angeblichem Kulturträger gegenüberstellte[7]. Diese negative Wertung ist noch heute erstaunlich tief im kollektiven Unterbewusstsein Europas verwurzelt, kommt selten in Verbindung mit historischem Wissen vor, meist aber mit der nicht hinterfragten Überzeugung, durch die Christianisierung sei das klassische Rom irgendwie zerstört worden. Eine demagogische, aber hartnäckige Legende.

Die Mischung macht’s …?

Aber wieso ist nun diese „aufklärerische“ Tradition wichtig für ein zeitgemäßes Verständnis des Christentums? Ist zum Beispiel der Katholizismus nur genießbar, wenn man ihn zusammen mit einer Dosis „aufklärerischem“ Anti-Katholizismus nimmt? Müssen deshalb immer beide in einem Atemzug genannt werden? Hat die Aufklärung das Christentum schon so stark innerlich verändert, dass es tatsächlich nur noch ein solch „aufgeklärtes“ gibt?

Eine Familienangelegenheit …

Wenn man die zentralen Glaubenswahrheiten des Christentums betrachtet, dann ist es frappierend, wie unerschütterlich ihre Kontinuität über zweitausend Jahre ist. Da fehlt nichts, da konnte keine Aufklärung etwas ergänzen oder verbessern. Aber die christliche Kultur unseres Zeitalters, die gewachsene kulturelle Ausprägung in der Kirche unserer Tage, sie hat in der europäischen Aufklärung eine Art entfremdeten Bruder. Und christliche Kultur und Aufklärung beeinflussen einander nun schon seit Jahrhunderten. Es ist ein Ringen, das nicht immer fruchtbar ist, welches aber das Christentum inzwischen gewissermaßen immunisiert hat, so dass es immer wieder gestärkt aus der Auseinandersetzung hervorgeht. Beide Kontrahenten können sich nicht einigen; aber sie können auch nicht voneinander lassen. Es ist mit der Aufklärung ein wenig wie beim Gleichnis vom verlorenen Sohn, der rebelliert, am Ende aber scheitert und doch zurückkehrt. Wobei offen bleibt, ob es tatsächlich zur Versöhnung kommt, wie im Gleichnis, und auf welche Weise[8].

Alleinstellungsmerkmal des Christlichen?

Wir sollten also ein wenig vorsichtiger sein mit der Diagnose „fehlende Aufklärung“, wenn es um andere Religionen geht (nicht nur den Islam). Hier geht es eben doch um eine Sache, die nicht so einfach von der abendländischen Tradition gelöst werden kann – es sei denn, es gehe um einen primitiven atheistischen Radikalismus. Das Christentum hat sich in zwanzig Jahrhunderten als für jede Kultur „anschlussfähig“ erwiesen, auf der ganzen Welt. Die „Aufklärung“ und die aus ihr folgende Säkularisierung aber deutlich weniger (eigentlich gar nicht). Sie hat eine kaustische, auflösende Wirkung, nicht nur auf andere Religionen, sondern auch auf ganze Kulturen. Die Idee eines „Euro-Islam“ ist schon vor langer Zeit gescheitert. Auch Buddhismus oder Hinduismus können bestenfalls streng getrennt, quasi abgeschottet neben einem aufklärerisch-säkularen Zeitgeist bestehen. Öffnen sie sich ihm, dann geraten sie in Gefahr der Auflösung. Vielleicht spüren das ihre Gläubigen in unseren Breiten unterbewusst, und vielleicht kommt es deshalb auch so leicht zu einer Abschottung in Parallel-Welten und zu einer Abstoßung der abendländischen Kultur insgesamt[9].

Mehr Licht!

Auf Französisch nennt sich das Zeitalter der Aufklärung „Siècle des lumières“ (Zeitalter des Lichtes bzw. der Lichter), was auf eine Selbstbezeichnung der Aufklärer zurückgeht, die damit den Eindruck erwecken wollten, sie seien die Lichtträger, die ein finsteres und dumpfes Zeitalter zu erhellen gehabt hätten. Das Bild hat sich seither ein wenig getrübt, und auch der anfängliche, selbstgewisse, auf radikale Autonomie setzende Fortschrittsoptimismus zeigt Abnutzungstendenzen. Die Geschichte der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts erinnert uns zudem daran, dass Aufklärung und Säkularisierung auch düstere, illegitime Nachkommen haben. Es ist deshalb an der Zeit für einen emotionslosen, vernunftgeleiteten Umgang mit der Aufklärung, ihren Verdiensten, aber auch ihren Grenzen und dunklen Seiten – für etwas Aufklärung der Aufklärungsmythen. Dabei kann es helfen, sich zunächst von den schwarzen Legenden und ressentimentgeladenen Geschichtsklitterungen zu lösen, ohne die der „aufklärerische“ Diskurs bis in unsere Zeit nicht auszukommen scheint[10].


[1]Keinesfalls  zu verwechseln mit der Tradition der Humanisten des 16. Jh., wie Erasmus von Rotterdam, der sich mit Schrecken dagegen verwahrt hätte, für eine Art atheistischen Pseudo-Humanismus vereinnahmt zu werden.

[2]Die Anspielung auf Friedrich Schillers berühmte Rede ist natürlich beabsichtigt. In seiner Jenaer Antrittsvorlesung mit dem programmatischen Titel „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ berührt der große Dichter der Aufklärung durchaus das hier behandelte Thema.

[3]Quasi eine säkularisierte Version der christlichen Lehre von der „Knechtschaft der Sünde“, aus der wir befreit werden können, was aber unsere Willensentscheidung voraussetzt. Wobei wir uns als Christen freilich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen können, sondern der Vergebung bzw. der Gnade bedürfen.

[4]„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“.

[5]Auch wenn natürlich der Begründungszusammenhang ein anderer ist. Vgl. aber Jesu Wort  in Mt. 7, 12: „Alles nun, was Ihr wollt, dass es Euch die Menschen tun, das tut auch Ihr Ihnen!“

[6]Vgl. Beitrag https://erziehungstrends.info/die-kirche-und-die-menschenrechte

[7]Vgl. hierzu den Beitrag https://erziehungstrends.info/schwarze-legenden-die-konstantinische-wende

[8]Lektüretipp: Das Lebenswerk Josef Ratzingers / Benedikt XVI. ist es, zu zeigen, dass  Glaube und Vernunft zusammengehören. Sie sind keine entfremdeten Geschwister, sondern quasi Zwillinge.

[9]So lässt sich auch das Paradox erklären, dass  besonders „progressive“ Gruppen ihre scharfe Ablehnung christlicher Werte (Sexualmoral, Ehe, Familienbegriff etc.) mit einer naiv wirkenden Duldsamkeit für fremde Religionen verbinden, so dass sie z.B. gleichzeitig für „Homo-Ehe“ und Duldung der Scharia  eintreten. Parallelgesellschaften erfahren diese Duldung nur dann, wenn sie dezidiert nicht-christlich sind.

[10]Vgl. hierzu u.a.  die Serie über „Schwarze Legenden“: https://erziehungstrends.info/category/schwarze-legenden