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Die Viren-Krise hat für die Familien auch ihre positiven Seiten. Sie entschleunigt den Alltag. Sie zwingt dazu, sich intensiver um das Kind oder die Kinder zu kümmern. Viele Kinder werden überrascht sein, dass „jemand“ zu Hause sich so viel Zeit für sie nimmt. In den Krippen und Kindergärten sind es in der Regel nicht mehr als zehn Minuten pro Tag. Bei so wenig Zeit kann keine tiefere Beziehung entstehen. Deshalb lautet die Devise in den Kitas auch „satt, sauber, beschäftigt“. Es ist das Etikett von Betreuung, nicht Erziehung.
Viele Eltern werden feststellen, dass Erziehung keine übliche Management-Tätigkeit ist, wie zum Beispiel der Begriff „quality time“ vorgaukelt. Kinder stellen ihre Fragen, wenn sie ihnen in den Kopf kommen oder die Situation sie ihnen eingibt. Sie warten nicht, bis Mama oder Papa nach Hause kommen, um die Frage dann aus dem Computer abzurufen. Spontane Fragen verlangen spontane Antworten – zumindest das Eingeständnis „das weiß ich jetzt nicht, sag ich dir gleich“. Aber selbst diese Antwort setzt Präsenz voraus und das dürfen demnächst viele Kinder erleben.
Zeit für die Familie
Das ist eine Chance für die Beziehungskultur. Etliche Eltern und Betriebe haben sich daran gewöhnt, die Grenzen zwischen Erwerbsberuf und Familie zu verwischen. Sie jagen der Zeit nach und, so beschrieb es schon Arlie Russell Hochschild in ihrem Bestseller über die Work-Life-Balance („Keine Zeit – Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet), sie wollen den Effizienzkult auch auf die Beziehungen übertragen. Aber in der Firma geht es um Projekte, in der Familie um Personen. Das sind dimensionale Unterschiede im Menschsein. Sie auseinander zu halten oder wenigstens sich der Unterschiede wieder bewusst zu werden ist die große Chance der erzwungenen Corona-Pause. Es ist auch eine Gefahr, die Grenzen noch weiter zu verwischen, je nachdem wie die Zeit zu Hause gemanagt oder verbracht wird.
Gelegenheit zur Vertiefung der Bindung
Zeit nehmen hieß die Devise vor Corona. Zeit haben heißt sie heute. Auch wenn Kinder mit Haus-Aufgaben im wahrsten Sinn des Wortes versehen und hier und da über Online mit ihren Lehrern verbunden sind, sie sind zuhause und allein die entfallenen Wegzeiten sind jetzt schon Zeiten des familiären Miteinanders. Es ist eine kostbare Zeit und Chance. Sie bietet Gelegenheit, die Bindung zu vertiefen über Gespräch und Spiel, auch über die schulischen „Hausaufgaben“, sofern die Eltern diesen Aufgaben gewachsen sind. Wiederholungen sind angesagt, Vokabeln abhören und vor allem Hinhören. Die klassische Tugendlehre kennt den Begriff der Solertia, des Zuhören-Könnens und ordnete ihn der Kardinaltugend Klugheit zu. Ohne Zuhören der Eltern keine Kenntnis der Befindlichkeit der Kinder. Das ist mehr als bloße Kenntnisaufnahme. Die Solertia ist das Hören des Herzens, sie schafft Zu-Neigung, mithin Bindung. Sie strickt mit am Band der Erziehung.
Eltern sind die „Bindungs-Profis“
Die Eltern aus systemrelevanten Berufsgruppen sind von der Zwangspause ausgenommen, ihre Kinder werden weiterhin betreut und das ist auch notwendig. Sie haben jeden Applaus verdient. Nur: Die systemrelevanteste Gruppe der Gesellschaft überhaupt ist die Familie. Souverän ist, wer den Ausnahmezustand bestimmt, heißt es in der Politik-Wissenschaft. Das darf nicht ein Virus sein. Die Familie sollte ihre Souveränität behaupten, indem sie den Ausnahmezustand nutzt, um die Beziehungskultur zu beleben.
Wenn die Politik vom Primat der Wissenschaft redet, dann meint sie den Primat der Naturwissenschaft. Es gibt aber auch eine Wissenschaft, die die Natur des Menschen erforscht: Die Bindungs-, Stress- und Hirnforschung. Auf sie hört die Politik selten. Immer noch wird die Krippe als die Institution mit den „professionellen Händen“ beschrieben. Aber es gibt keine Institution, die mit Blick auf Urvertrauen, Bindung und Persönlichkeitsbildung professioneller wäre als die Familie. Die Studienergebnisse der Entwicklungspsychologie, der Bindungsforschung und verwandter wissenschaftlicher Bereiche sind erdrückend.
„Erzeugung solidarischen Verhaltens“ auch Grund für den verfassungsrechtlichen Schutz der Familie
Ein Ergebnis der familiären professionellen Hände, vulgo Erziehung in Familie, ist das solidarische Verhalten. Folgt man wissenschaftlicher Literatur, wird „die Erzeugung solidarischen Verhaltens“ auch als ein Grund für den verfassungsrechtlichen Schutz der Familie genannt. Es sei eine Leistung, schrieb der Nestor der Familienpolitik, Heinz Lampert, die in der Familie „in einer auf andere Weise nicht erreichbaren Effektivität und Qualität“ erbracht werde (Priorität für die Familie, 16). Gemeinsinn, Toleranz, Ehrlichkeit, Treue, Hilfsbereitschaft, Verantwortungswille, Empathie – all diese sozial relevanten Fähigkeiten sind Teil des „solidarischen Verhaltens“. Man erlebt sie nicht nur auf den Balkonen in Madrid und Neapel, sie wirken auch in Deutschland in vielen helfenden Händen, zum Beispiel in dem Verzicht vieler Messe- und Konzert-Besucher, die ihre Tickets nicht erstattet bekommen wollen, um die Existenz der Kulturbetriebe zu stützen. Dieses Verhalten kann von den „professionellen Händen“ nicht geschaffen werden.
Nicht lösbarer Personalmangel
Das ist nicht die Schuld des Kita-Personals. Im Gegenteil. ErzieherInnen tun, was sie können. In der Regel sind sie überfordert. In Kitas und Grundschulen wird sich die Lage jetzt für ein paar Wochen entspannen, um dann wieder in den Verzweiflungsmodus zurückgeworfen zu werden. Es fehlen einfach die Fachkräfte. Zwar hat die Zahl der ErzieherInnen in den letzten zehn Jahren von 298.500 auf 646.945 zugenommen, wie das Statistische Bundesamt und Fachstudien belegen. Aber das reicht bei weitem nicht. Eine Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung unter 2800 Kita-Leitern hat jüngst ergeben, dass 90 Prozent der Kitas unterbesetzt sind, viele Erzieherinnen stufen die Belastung als „akut gesundheitsgefährdend“ ein. Corona wird sie hier und da mal durchatmen lassen.
Mehr als eine Atempause ist aber nicht drin. Der Markt an Erziehungspersonal ist leergefegt. Die Politik hat versäumt, mit der Krippenoffensive in den Jahren ab 2007 auch numerisch die Voraussetzungen zu schaffen, dass genügend Personal für die steigende Zahl an Krippen- und Kindergartenplätzen vorhanden ist – von der Qualitätsoffensive ganz zu schweigen. Die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen hat die Vorlage ihrer SPD-Vorgängerin Renate Schmidt eins zu eins umgesetzt, ohne Rücksicht auf das Kindeswohl und die schon damals vorhandenen Ergebnisse der Bindungs- und Hirnforschung. Es gab Stimmen, die warnend auf die Forschungsergebnisse und auf den künftigen Bedarf an geschultem Personal hinwiesen.
Parkplätze für Kleinstkinder
Er war leicht auszurechnen. Bei einer halben Million zusätzlicher Krippenplätze hätte man an Fachhochschulen oder anderen Schulungsorten wenigstens 100.000 Ausbildungsplätze für Erzieher und Erzieherinnen vorsehen müssen. Aber in keinem Budget des Bundes oder der Länder war auch nur eine Spur von Voraussicht zu entdecken. Man baute schlicht Parkplätze für Kleinstkinder und nannte es frühkindliche Bildung, ohne den Grundsatz zu beherzigen: Bindung geht der Bildung voraus. Diese Erkenntnis störte. Dabei geht es nur um ein paar, aber entscheidende Jahre für das Kind, und damit auch für die Gesellschaft. Immerhin hängt an einer guten Bildung auch die Innovationskraft der Gesellschaft. Das Kurzfristdenken in Jahresbilanzen aber setzte sich durch, die Politik folgte der Wirtschaft willfährig unter dem Beifall der meisten Medien. 2006 wurden gerade mal 17 Prozent der Zweijährigen fremdbetreut, heute sind es mehr als fünfzig Prozent.
Personalnot
Der Kita-Markt und seine Industrie wachsen. Heute sind rund 700.000 Erzieherinnen und Erzieher sozialversicherungspflichtig beschäftigt, schreibt das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung im Januar. Aber es ist ein „Engpassberuf“, es fehle an allen Ecken und Enden. Jetzt wird geschätzt, dass bis 2025 noch 300.000 Stellen für Erziehungs- und Betreuungsfachkräfte geschaffen werden müssten. Bis dahin werden aber maximal 150.000 Erzieher und Erzieherinnen ihre Ausbildung abschließen. Deshalb wird sich der Personalschlüssel, der sich zwischen 2012 und 2018 leicht verbessert hatte (heute kommen auf eine Krippen-Fachkraft 4,2 Kinder unter drei Jahren) wieder auf mehr als fünf Kinder hochschrauben. Und das ist nur eine statistische Größe. Die Wirklichkeit in den meisten Krippen sieht eher so aus: 1:10. Denn die Erzieherinnen haben ja auch andere Aufgaben als nur die Betreuung zu erfüllen. Auch integrationswillige Zuwanderer sind für diesen Bereich schon aus sprachlichen Gründen nur bedingt einsatzfähig.
Personalnot auch in den Schulen
Die Personalnot in den Kitas wird sich in den Schulen fortsetzen. Die Politik hat wohlfeil das Recht auf einen Kita-Platz eingeräumt und ebenso wohlfeil verkauft sie jetzt das Recht auf Ganztagsbetreuung in den Grundschulen ab dem Jahr 2025. Sie winkt mit Geld, der Ausbau der Ganztagsbetreuung werde bis zu 6,5 Milliarden Euro und dann jedes Jahr zwischen 2,6 und 3,9 Milliarden kosten. Aber auch hier fehlt entsprechendes Personal. Der Mangel wird die Kapazitäten und damit die Qualität erwürgen. Der Corona-Virus wirft die Familien eine Zeitlang auf ihre vergessene Kernkompetenz zurück, die Pflege der emotionalen Befindlichkeit und die Schaffung der Bindungsqualität. Man darf diese Kernkompetenz auch als Erziehung zur Liebesfähigkeit bezeichnen. Das kann der Staat nicht.
Familie ist jeder Ehre wert
Viele Eltern und Kinder werden das spüren, andere darüber nachdenken. Sollte das der Fall sein, kann man der Krise, auch eine positive Seite abgewinnen. Vielleicht werden einige Politiker dann auch genauer nachrechnen und zu dem Ergebnis kommen, dass das solidarische Verhalten und die „personbildende Leistung“ (Bruno Heck), die in der Familie erbracht werden, eigentlich jeder Ehre – Honor – wert ist. Ja, die Besinnung könnte zu den drei großen Z führen, die Pestalozzi für die Erziehung im Besonderen und damit für die Beziehungskultur im Allgemeinen als grundlegend ausmachte: Zeit, Zuwendung, Zärtlichkeit. Letztere ist momentan oft nur elektronisch oder auf Distanz möglich. Wenn die Krise überstanden ist, wird sich auch die elektronische Zärtlichkeit wieder in reale Nähe wandeln. Und viele Familien könnten ihre Kernkompetenz mit anderen Augen sehen.
Der hier veröffentliche Artikel ist ein Ausschnitt aus „Die Corona-Chance“ Von Jürgen Liminski