Kann es so etwas geben wie „christlichen Kommunismus“? Eigentlich ist das ein Widerspruch in sich, bestenfalls ein Oxymoron[1]: Wenn wir daran denken, wie viel Elend, Gewalt und Tod der Kommunismus über die Menschheit gebracht hat, und wie verheerend diese Ideologie noch heute wirkt… Nichts könnte unchristlicher sein! „Christlicher Kommunismus“, das klingt wie „freundlicher Hass“ oder „schonende Hinrichtung“. Da hilft auch das abgenutzte „der-Kommunismus-wurde-nur-nie-richtig-umgesetzt“-Scheinargument nichts. Damit mochte man sich vor hundert Jahren noch täuschen lassen, aber doch nicht mehr heute! Nein, am Kommunismus als tatsächlicher Erscheinung in der Geschichte der Menschheit ist nichts zu retten, nicht einmal der Begriff.

Fairerweise muss man aber sagen, dass in der Zeit vor der Machtergreifung kommunistischer Regime die Konnotation natürlich noch eine andere war. Und aus dieser Zeit stammte ursprünglich auch der Begriff „christlicher Kommunismus“[2]. Er zielte ganz naiv auf die Vorstellung ab, die Idee des „Gemeineigentums“ sei der Kern des „kommunistischen“ Denkens, und das sei doch eigentlich auch irgendwie christlich. Selten fehlt in dieser – auch heutzutage noch vertretenen – Argumentation der Hinweis auf die Apostelgeschichte. Schreibt da nicht der Hl. Lukas, dass die ersten Christen das Privateigentum abgeschafft, oder gar wie in einer Art Kommune gelebt hatten? Kann nicht zumindest die ursprüngliche „Idee“ des Sozialismus oder Kommunismus zu Recht auf das Urchristentum zurück geführt werden? Eine heute gerade in „kirchlichen Kreisen“ nicht ganz fremde Überlegung. Aber ist da was dran?

Ein Herz und eine Seele

In der Apostelgeschichte kann man lesen: „Alle die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel wie er nötig hatte“[3] So berichtet Lukas über das Leben der jungen Gemeinde unmittelbar nach dem Pfingstereignis. Wenig später heißt es: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam“[4] Im Weiteren wird sogar noch ausführlicher beschrieben, wie die Gläubigen ihren Besitz verkauften und „ihn den Aposteln zu Füßen“ legten[5]

Dies geschah in einer Zeit der Bedrängnis der ersten Gemeinde, die aber trotz aller Nöte – oder gerade deshalb – durch ihr Vorbild liebevoller Gemeinschaft und großer Frömmigkeit auffiel und tiefen Eindruck in der heidnischen Bevölkerung machte. Dieses Leben wie in einer großen Familie, das quasi in nuce eine Vorwegnahme des „himmlischen Jerusalem“ zu sein scheint, beeindruckt bis zum heutigen Tag Menschen auf der ganzen Welt. Und es ist kein Zufall, dass der Ausdruck „ein Herz und eine Seele“ ebenso sprichwörtlich geworden ist wie der „barmherzige Samariter“.

Eine große Familie

Es ist nicht verwunderlich, dass das Beispiel der allerersten Christengemeinde unter frommen Menschen immer einen großen Reiz als mögliches Vorbild gehabt hat. Die Kirchengeschichte ist voll von Versuchen, dieses Modell irgendwie nachzuahmen oder wiederherzustellen. Die guten und gelungenen darunter sind allerdings nicht Wirtschafts- oder Gesellschaftsmodelle, sondern  Lebensformen in geistlichen Gemeinschaften. Bekannte Beispiele sind zum Beispiel die sog. „Bettelorden“ des Hochmittelalters, in deren Armutsideal eine ähnliche Loslösung vom Materiellen gelebt wurde, wie in der urchristlichen Gemeinde. Das Modell des Gemeineigentums, oder besser gesagt: der Gütergemeinschaft, findet sind aber auch ohne die radikale Armutsverpflichtung in bestimmten geistlichen Gemeinschaften (nicht nur Ordensgemeinschaften) bis zum heutigen Tag.

Wo immer das erfolgreich gelebt wird, geschieht es in einem spirituellen und bewusst familiären Lebensumfeld. Die ersten Christen, deren Zusammenleben in der Apostelgeschichte so plastisch beschrieben wird, lebten in genau so einem Kontext. Nur so konnte das harmonisch funktionieren; und es ist deutlich, dass die Spiritualität einer solchen geistlichen Gemeinschaft nicht mit einem Gesellschaftsmodell zu verwechseln ist, das sich auf ganze Völker und Staaten ausweiten ließe. Wann immer so etwas dennoch versucht wurde, nahm das Experiment ein böses Ende[6].

Gütergemeinschaft versus Kollektivismus

Man hätte bei aufmerksamer Lektüre des Neuen Testaments schon gleich darauf kommen können, dass die urchristliche Gütergemeinschaft[7] nicht als gesellschaftliches und politisches Modell gedacht war und sich von allen auf Kollektivismus zielenden Ideologien nicht nur graduell, sondern substantiell unterscheidet. Denn wie die Gütergemeinschaft in der Ehe setzt das urchristliche „Modell“ eine auf Selbstlosigkeit und Liebe gegründete Gemeinschaft voraus; Letzteres war das typische, beinahe sprichwörtliche Kennzeichen der ersten Christen. Die menschlichen und sozialen Grenzen des Modells in größeren, quasi „überfamiliären“ Kontexten, werden freilich schon in der Apostelgeschichte benannt[8].

Der hl. Lukas klärt uns ganz nebenbei auch darüber auf, wie damals der Übergang zu schaffen war von der Situation der Christen unmittelbar nach Pfingsten, zum Teil in einer glühenden Naherwartung[9], hin zu einem von Glauben und Vernunft zugleich geleiteten praktischen Handeln. So wird uns über den ganz irdischen Unmut berichtet, der unter den ersten Christen über die  Benachteiligung bestimmter Gruppen[10] aufkam. Die Antwort war keine chiliastische[11]Exaltation, kein Heraustreten aus der Welt, keine Revolution, sondern etwas im besten Wortsinne Pragmatisches (als Wahrnehmung „sozialer Verantwortung“, im Sprachduktus unserer Zeit gesagt): die Benennung von Verantwortlichen für die gerechten Verteilung von sozialen Hilfen. Keine Spur also von Kollektivismus und Enteignung; vielmehr praktische Umsetzung christlicher Nächstenliebe, ganz im Sinne Jesu.

Kirchliche Soziallehre

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass wir in der Apostelgeschichte im Kern bereits die Geburtsstunde der katholischen Soziallehre avant la lettre erleben. Bei genauer Lektüre erweist sich tatsächlich, dass der Weg von der Apostelgeschichte bis zu den Sozial-Enzykliken der Päpste in neuerer Zeit[12] gar nicht so weit und gewunden ist, wie man denken könnte. Denn diese Lehrschreiben haben im Grunde nur in aller Ausführlichkeit und unter Berücksichtigung der massiv veränderten gesellschaftlichen Umstände das weiterentwickelt, was von Anfang an katholische  Lehre und Praxis gewesen war.

In gewisser Weise wiederholt sich bei der Entwicklung der kirchlichen Soziallehre ein Vorgang wie er bei der Entfaltung von anderen Lehraussagen („Dogmen“) immer wieder zu beobachten war: Manches, was eigentlich bekannt war und selbstverständlich praktiziert wurde, musste irgendwann doch im Detail ausformuliert und formal abgefasst werden – und zwar oft genau dann, wenn es plötzlich in Frage gestellt wurde. Im Falle der christlichen Soziallehre entstand diese Notwendigkeit durch die ungeahnte Not ausgebeuteter Massen in der Zeit der ersten Industrialisierung. Genau wie bei den „Dogmen“ ging es nicht um die „Erfindung“ von etwas Neuem, sondern um die Erinnerung an bekannte Wahrheiten sowie deren Anwendung in neuem Umfeld[13].

Christliches Alleinstellungsmerkmal

Durch zwei Jahrtausende, in allen Gesellschaften und auf allen Kontinenten war und ist die gelebte Nächstenliebe ein entscheidendes Kennzeichen des Christlichen. Auch säkulare Soziallehren gründen auf der Nächstenliebe, selbst wenn dann der Begriff verworfen und durch andere Ausdrücke ersetzt wurde (Solidarität, Mitmenschlichkeit etc.). Auch andere Religionen haben sich „anstecken“ lassen von der christlichen Nächstenliebe und zumindest Elemente davon aufgenommen, meist ohne dass es den Gläubigen bewusst ist[14].

Nach einem sehr treffenden Wort von Josef Ratzinger / Benedikt XVI. kann man sagen, dass die Kirche drei Aufgaben hat: Das Evangelium zu verkünden, die Sakramente zu spenden und Nächstenliebe zu üben. Alle drei Elemente gehören zusammen, und nur zusammen entfalten sie ihre volle Wirksamkeit.

Pathologische Formen von Soziallehre

Es ist insofern nicht verwunderlich, dass Übertreibungen, Engführungen, säkulare Nachahmungen von Teilen dieses christlichen Propriums in allen möglichen nicht-christlichen sozialen Lehren leicht pathologische Fehlentwicklungen zur Folge haben. Es handelt sich dann sozusagen um „Pathologien von Soziallehre“, mit einem Wort von Benedikt XVI. aus anderem Zusammenhang gesagt[15]. Die schlimmsten dieser Pathologien von tatsächlichen oder vermeintlichen Soziallehren sind zweifellos Sozialismus und Kommunismus in ihren manifesten Formen. Diese mit einem christlichen Etikett zu versehen, sollte sich von selbst verbieten. Von ihnen soziale Verantwortung lernen zu wollen, wäre geradezu absurd; und nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts kann man die Idee, mit sozialistischen / kommunistischen Organisationen womöglich Bündnisse einzugehen, um einem vermeintlichen „gemeinsamen Gut“ zu dienen, nur als widersinnig und selbstzerstörerisch bezeichnen.


[1]Oxymoron: Eine rhetorische Figur die zwei gänzlich widersprüchliche Dinge zusammenbringt.

[2]Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „christlicher Sozialismus“. Im Rahmen des hier gestellten Themas darf man beides getrost zusammen behandeln.

[3]Apg. 2, 43 f.

[4]Apg. 4, 32 ff.

[5]Ebd, v. 34 f.

[6]Vgl. z.B. chiliastische Sekten (wie die „Katharer“ des 13. Jh.), oder radikale Bewegungen wie die des Thomas Müntzer im 16. Jh., die fast immer in Nötigung, Zwang und Gewalt endeten.

[7]Eine Lebensform, die durch den Begriff „christlicher Kommunismus“ oder „christlicher Sozialismus“ nicht nur falsch bezeichnet, sondern (nach den Erfahrungen des 20. Jh.) geradezu verunglimpft würde.

[8]Die etwas unheimliche Geschichte von Hananias und Saphira (Apg. 5, 1-11) belegt das ebenso, wie sie beiläufig zeigt, dass es dort keinen Zwang zum „Gemeineigentum“ gab.

[9]Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Wiederkehr Christi am Ende der Zeiten.

[10]Apg. 6, 1-7

[11]Hier: Im Sinne einer enthusiastischen, endzeitlichen Naherwartung.

[12]Vgl. u.a.: „Rerum Novarum“ von Leo XIII. (1891); „Populorum Progression“ von Paul VI. (1967); „Centesimus Annus“ von Johannes Paul II (1991), und besonders „Caritas in Veritate“ von Benedikt XVI. (2009).

[13]Bzgl. der Dogmen sehr treffend und umfassend beschrieben von Kardinal John Henry Newman in seinem „Essay on the Development of Christian Doctrine“.

[14]Vgl. zum Beispiel den „Humanitarian Buddhism“ der Tzu Chi-Gemeinschaft in Taiwan. Hier wird ganz offen auf das christliche Vorbild (kath. Ordensschwestern) verwiesen. In den meisten Fällen geschieht das aber ohne Nennung der Herkunft des Gedankens.

[15]Er sprach von „Pathologien von Religion“, wenn unter Berufung auf Gott Gewalt ausgeübt wird.