Neulich war ich bei einer festlichen Veranstaltung im Garten des Schlosses Bellevue. Bei schönstem Sommerwetter und freundlicher Atmosphäre wurden die Mühen und Verdienste von Menschen gewürdigt, die sich in ihrem Berufsleben für das Gemeinwesen einsetzen. Nicht um Ordensträger oder Helden ging es, sondern um ganz normale Leute, bestimmte „Professionals“ die unter schwierigen Bedingungen ihren Dienst leisten.

Nach dem Grußwort des Bundespräsidenten erwiderte einer der Betreffenden mit warmherzigen Dankesworten. Dabei charakterisierte er die geleistete Arbeit mit einem Vergleich: So wie Sisyphus immer wieder und wieder den Stein bergan rollt, sich durch Misserfolge nicht entmutigen lässt, so auch wir…

Auch wenn der Stein zurückrollt, oder uns schon mal „auf die Füße fällt“, nehmen wir ihn immer wieder auf und fangen von vorne an. Eine schöne Metapher, so dachten gewiss alle Zuhörer. Und „für sich genommen“, als launige Erwiderung auf eine Lobrede, im Sprachduktus des „Small Talk“, kommt das gut an. Aber wenn man es ernst nimmt, dann merkt man dass da etwas nicht stimmt. Und es zeigt sich eine eher traurige Grundstimmung in unserer Gesellschaft.

Mythologie aktuell

Der ursprüngliche altgriechische Mythos von Sisyphus[1] ist eine ziemlich bittere und trostlose Geschichte. Sisyphus, der mythische König von Korinth, ist darin ein cleverer, unerbittlicher   Kämpfer gegen das menschliche Schicksal, der es sogar mit den Göttern und dem Tod aufnimmt; mit erstaunlichem, aber nicht dauerhaftem Erfolg.

Am Ende wird er dazu verdammt in alle Ewigkeit einen schweren Felsbrocken einen Berg hinaufzuwuchten, der dann aber, kurz vor Erreichen des Gipfels, wie von Zauberhand gerührt wieder den ganzen Hang hinunter rollt, so dass Sisyphus  zurücklaufen und von vorne anfangen muss. Und so weiter und so fort…

Eine wahre Höllenstrafe für sein aufrührerisches Wesen und seinen Kampf gegen die olympische Götterwelt. Und der Hintergrund für unsere sprichwörtliche Rede von einer Sisyphus-Arbeit, einer nicht enden wollenden und völlig fruchtlosen Plackerei.

Gründungsmythos des Existenzialismus?

Die meisten Zeitgenossen können nicht von Sisyphus hören ohne an Albert Camus zu denken. Sein Essay „der Mythos des Sisyphus“[2] hat nicht nur das Verständnis des fernen und ein wenig bizarren Mythos dauerhaft verändert; er hat auch das Selbstverständnis ganzer Generationen beeinflusst. Der Existenzialismus nach Camus hat noch heute eine enorme Anziehungskraft; und dabei spielt der Sisyphus eine zentrale Rolle.

Camus geht es um die Absurdität des menschlichen Lebens, die für ihn, mangels jeglicher Transzendenz, unausweichlich und ohne Ausweg ist. Seine Lösung  – der Verzweiflung durch die  „Annahme“ des Absurden zu entgehen – wird besonders deutlich in jenem Essay sichtbar: Die Arbeit des Sisyphus mag aussichtslos und zu ewiger ergebnisloser Repetition verurteilt sein, aber in der Annahme des absurden Schicksals wird Sisyphus „frei“. Camus sieht ihn geradezu als glücklich an. Dieses „Glück“ genießt der Verdammte beim Zurückgehen zum Anfangspunkt. Schön wenn der Schmerz nachlässt… Ein Sinngebungsersatz für ganze Generationen von atheistischen Zeitgenossen, die irgendwie eine Art Existenzialismus als Lösung der Sinnkrise ansehen.

Was auf den ersten Blick nur todtraurig und hoffnungslos ist, in der griechischen Mythologie auch gar nichts Ermutigendes haben sollte, sondern als warnendes Schrecknis gedacht war, wird bei Camus umgedeutet in ein Beharren des Menschen im Angesicht der völligen Sinnlosigkeit. In gewisser Weise nimmt Camus damit den Sisyphus des Mythos überaus ernst, in seinem kühnen Aufbegehren gegen das menschliche Schicksal und die Ordnung der Dinge[3]. Der Frevel des Sisyphus wird zur Tugend; Camus postuliert einen unbeugsamen Sisyphus, einen, der sich als einsamer Held selbst von Göttern nicht brechen lässt (wovon freilich der antike Mythos nichts weiß). Das macht diese neue Sisyphus-Figur des Existenzialismus des 20. Jahrhunderts so attraktiv für viele Zeitgenossen.

Mit Risiken und Nebenwirkungen…

Es ist aber eine gefährliche Attraktivität. Was vordergründig so aussehen mag wie der extreme Anwendungsfall des Sinnspruches[4] „aus der Not eine Tugend“ zu machen, war für Camus das ehrliche Ringen um Sinn (-ersatz) im Absurden. Aber zur allgemeinen Maxime für das menschliche Leben taugt das nicht, und es führt letztlich zur – vielleicht unbewussten – Verewigung des Aufbegehrens gegen die Ordnung der Dinge und die Realität des Seins[5].

Keine gute Basis für inneren Frieden und Freiheit; und mit unkalkulierbaren Folgen für das Selbstbild der Menschen. Bedenklich ist das nicht nur aus christlich-theologischer Sicht, sondern auch in ganz materiell praktischem Sinne. Wie viele Menschen vermögen aus der einsamen und tristen Welt des Beharrens à la Sisyphus wirklich Trost für ihr eigenes Leben zu schöpfen? Selbst unter Intellektuellen ist die Wirksamkeit dieses Trostes wohl gering. Schick, aber trostlos.

Und erst für einfache Menschen[6]… Hier zeigt sich eine zu allen Zeiten zu findende, heute aber besonders weit verbreitete Situation, die in der christlichen Philosophie als Homo incurvatus in se ipsum[7] bezeichnet wird: Der Mensch kann sich nicht selbst erlösen und ist zugleich nicht bereit sich zum Transzendenten zu öffnen. Er bleibt hoffnungslos in sich selbst verkrümmt.

Sisyphus als Role Model?

Zurück zur vermeintlichen Metapher der Unermüdlichkeit. Kann der Vergleich mit Sisyphus aufbauend wirken, Lob und Ermutigung ausdrücken? Wohl kaum.

Es ist schon ein Missverständnis der alltäglichen Rede von der „Sisyphusarbeit“. Eine solche ist eben nicht eine große Anstrengung, die des Schweißes der Edlen wert wäre. Sie ist ganz einfach fruchtlos. Und niemand wird im Ernst bei einer Lob- und Dankrede sagen wollen: „Danke für Eure Anstrengung und Mühe – aber was Ihr tut ist sinnlos“. Das mag nun wie Haarspalterei klingen; denn jeder versteht doch was eigentlich gemeint ist, nicht wahr?

Aber das schiefe Bild, die misslungene rhetorische Figur offenbart eben doch mehr als nur einen oberflächlichen Umgang mit der Sprache. Ohne die fatale Popularität des falschen Sisyphus, der vom Verdammten und Gescheiterten zum trotzigen Helden und vermeintlichen Vorbild stilisiert wird, wäre er nicht in der schiefen Metapher gelandet. Zum „Role Model“ taugt er aber nicht; nicht einmal in einer Sonntagsrede.


[1]Wir verwenden in der Regel die latinisierte Fassung (Sisyphus) des altgriechischen Namens Σίσυφος (Sísyphos).

[2]Im Original: Le mythe de Sisyphe.  Ein Essay von Albert Camus aus dem Jahre 1942 und ein Kernstück seiner Philosophie.

[3]Ohne Gott und deshalb letztlich ohne Sinn.

[4]Dieses Sprichwort ist nur einer von vielen Belegen dafür, dass unsere Sprache eine unerschöpfliche Quelle von tradierter menschlicher Erfahrung und sogar Weisheit ist. Ein Grund mehr mit der Sprache sorgsam umzugehen.

[5]Letztlich eine Manifestation des Aufbegehrens gegen Gott, womit Atheisten ungewollt bestätigen, dass ihr ganzes Denken und Streben und Kämpfen auf den bezogen ist und bleibt, dessen Existenz sie leugnen (wollen).

[6]Es wäre eine Untersuchung wert, ob das Erscheinen von Camus’ Essay (entgegen seiner Aussageabsicht) eine ähnliche Welle von Suiziden verursacht hat wie weiland das Erscheinen von Goethes „Werther“, eines Buches, das  etliche unglückliche Menschen ungewollt in den Selbstmord trieb.

[7]Der „in sich selbst verkrümmte Mensch“.