Postfaktisch ist nicht nur das (Un-)Wort des Jahres, sondern meint „Mit Fakten setze ich mich nicht mehr auseinander, ist mir zu anstrengend.“ Postfaktisches Handeln kennen die in den 50ern, 60ern und 70ern Geborenen überhaupt nicht. Bevor über etwas geredet oder sich eine Meinung gebildet wurde, ging’s an die Recherche. Wie es sich gehört. Danach wurde heftig debattiert und um Meinungen gerungen. Heute werden stattdessen zu häufig selbst kreierte Meinungen zwischen Unfug und Halbwahrheit bzw. gezielte Unterstellungen oder Lügen an der Front der Meinungsmacher medienwirksam emotional aufgehübscht präsentiert.

Warum Fakten immer stärker – wie die Pest – gemieden werden und zur Bedeutungslosigkeit verkommen und statt dessen flott-eingängige Sprüche oder Behauptungen die Medien zu beherrschen scheinen, darauf gibt der Psychologe, Erziehungswissenschaftler und Buchautor Dr. Albert Wunsch mögliche Antworten.

Herr Dr. Wunsch, für einen vor 40 – 50 Jahren Geborenen war es in der schulischen Ausbildung und dem späteren Studium Usus, sich einem Thema dialektisch zu nähern. Der Inhalt wurde zunächst einmal recherchiert, ein pro und contra dargelegt und danach – nach reiflicher Überlegung – ein Resümee gezogen. Dann gab es eine Bewertung (Note). Warum scheint dies heute nicht mehr möglich?

Es ist heute noch genauso möglich und notwendig wie vor etlichen Jahren. Aber zu viele Menschen – besondern die zwischen 15 und 45 – scheinen den Unterschied zwischen Fakten und Meinung gar nicht mehr zu kennen. Zu dieser Fehl-Kenntnis gesellt sich eine furiose Hochachtung vor den eigenen Äußerungs-Resultaten, dass diese wie eine für den Nobelpreis nominierte Botschaft gefragt oder ungefragt in die Welt hinein posaunt wird. Aber aktuell verdeutlichen einige Politiker recht lauthals, dass auch Ältere von diesem Schicksal betroffen sind, die Ergebnisse eigener Hirn-Akrobatik für Fakten zu halten bzw. diese als solche zu ‚verkaufen’. Dabei scheint es eine Gesetzmäßigkeit zu geben. Je abstruser die Denkergebnisse oder Vorhaben, je lauter und alternativloser werden sie in die Medien-Welt hinein katapultiert. Und dabei lassen sich Twitter, Facebook & Co. als recht geduldige, aber wirkungsstarke Abschuss-Rampen nutzen.

Ist es die menschliche Faulheit, die Journalisten und Politiker dazu veranlasst, lieber Emotionen zu transportieren als fundierte Nachrichten oder überprüfbare Fakten zu liefern?

Was die Medien angeht, scheinen sich zu viele Journalisten an der Maxime zu orientieren, dass Fakten altmodisch und unspektakulär, statt dessen Meinungen viel origineller und medienwirksamer seien. Beispielweise zu berichten, dass eine Stadtkasse leer ist und damit die Vorhaben X – Z nicht realisiert werden können, will niemand zur Kenntnis geben und nehmen. Stattdessen werden lieber publikumswirksam Nebensächlichkeiten in Szene gesetzt. Dass dabei die Verantwortung der Medien, wichtige Fakten in die Welt zu tragen, verloren geht, wird dabei hingenommen. Dieser Prozess wird verstärkt, weil fast alle Medien ihre Infos von den großen Presse-Agenturen beziehen und diese von dort angebotenen Nachrichten meist ungeprüft übernommen werden. Das hat auch etwas mit Trägheit und fehlendem Berufs-Ethos zu tun. Ein weiteres Phänomen ist, dass die Medienvertreter ihre Sicht der Dinge als allgemeingültig darstellen. So werden Berichte, ohne dies kenntlich zu machen, zu Kommentaren und die Zusammenstellung der News unterliegt einer persönlich oder redaktionell geprägten Vorsortierung. Dabei scheinen Wahrhaftigkeit und Bedeutsamkeit zu häufig nebensächlich. In meinen Uni-Seminaren weise ich dazu gerne auf die Parabel des Sokrates zu den drei Sieben „Wahrheit, Güte und Notwendigkeit“ hin. Denn, so folgerte der Weise: ‚Wenn du etwas berichten willst, was weder erwiesenermaßen wahr, gut, noch notwendig ist, so lass es und belaste niemanden damit!’ Würde diese Botschaft von Politikern, Medienvertretern und anderen öffentlich agierenden Personen beherzigt, wäre es recht still und beschaulich in der Welt. (Link zum Unterlegen zu Sokrates: http://www.k-l-j.de/kgeschichte_7.htm)

Die Verantwortungsträger – oder sollte man sagen, „die sich für Verantwortung berufen Fühlenden“ – posaunen in Funk, Fernsehen und Internet ihre Weisheiten hinaus und das Gros der Gesellschaft trötet kräftig mit. Was stimmt da beim Bürger/Konsumenten nicht mehr? Warum nimmt er Äußerungen wie ‚Das Volk sind alle die hier leben’ so unkritisch auf?

Über einen solchen Satz lässt sich ja noch trefflich unter verschiedensten Aspekten diskutieren. Dazu wären jedoch Kenntnisse der Soziologie, Politologie und Sozial-Psychologie – um nur einige der betroffenen Wissenschafts-Disziplinen zu nennen – und die Fähigkeit des gegenseitigen Zuhörens notwendig. Aber sich selbst eine Auffassung aufgrund einer Auseinandersetzung mit Fakten, Notwendigkeiten und persönlichen Bestrebungen zu bilden und diese als Stellungnahme oder Entscheidung zu äußern, setzt ein beträchtliches Maß an Intelligenz voraus, ist reichlich mit Grübel-Arbeit verbunden und erfordert ein stabiles Rückgrat. Dies ist jedoch den meisten – durch eine verwöhnende Spaßkultur geprägten – Zeitgenossen viel zu mühevoll. So werden kunstvoll gestylte Worthülsen zum bevorzugten und leicht konsumierbaren Informations-Medium in Politik und Gesellschaft, frei nach der Devise: Je ausgefallener und abgedrehter, um so besser ist die Meldung. So werden interessant und populär wirken sollende, aber substanzlose Botschaften generiert. Als Folge haben viele Nachrichten und Berichte einen erheblichen Unterhaltungswert, wobei die faktischen Sachzusammenhänge aus dem Blickfeld gedrängt werden. So wird der Desinformation gezielt Tor und Tür geöffnet. Aber Medien als Vernebelungs-Maschinen taugen nur zur Erzeugung von Party-Flair.

Hier scheint zu gelten, was Peter Sloterdijk einmal so umriss: „Macht ist das Vermögen, die Tatsachen in die Flucht zu schlagen.“ Zwei große philosophische Vorgänger haben es kaum anders zum Ausdruck gebracht: „Denn so ist der Mensch! – Ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein – gesetzt, er hätte ihn nötig, so würde er ihn immer wieder für wahr halten.“ (Nietzsche). Oder leicht variiert: „Was dem Wollen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein.“ (Schopenhauer).

Herr Dr. Wunsch, sie sind in der Lehre an verschiedenen Hochschulen tätig. Wird dieses ‚postfaktische Phänomen’ dort auch deutlich?

Gut, dass sie danach fragen. Die Antwort ist ein klares Ja! So werden häufig wissenschaftliche Fakten als persönliche Auffassung des Lehrenden dargestellt. Erst recht ist mit einem Ignorieren – bis hin zum Torpedieren – von Fakten zu rechnen, wenn es sich um ethische Fragen handelt. So hatte ich im WS 16/17 eine Lehrveranstaltung zum Themenfeld Kommunikation an der Uni, wo eine Studentin innerhalb eines Beispiels von einer Abtreibungs-Beratungs-Einrichtung berichtete. Nach Abschluss ihrer Seminareingabe wies ich die Studierenden darauf hin, dass es in Deutschland keine Abtreibungs-Beratung, sondern nur Schwangerschafts-Konfliktberatungsstellen geben würde, weil Abreibungen laut StGB § 218 ein Straftatbestand sei, welcher eine bis zu 3jährige Gefängnisstrafe nach sich ziehen und nur durch die im § 218a geregelten Ausnahmen keine Strafverfolgung einsetzen würde. Diese Richtigstellung, welche ich – dank W-Lan – durch das Vorlesen des Gesetzestextes untermauerte, führte im Anschluss jedoch zu der Äußerung von einigen Studierenden, dass sie an einer Uni nicht durch die persönliche Meinung eines Lehrenden indoktriniert werden möchten.

Wem könnte der Appell „Zurück zur Sachlichkeit – weg von emotionalen Entscheidungen“ gelten? Den Journalisten und Meinungsmachern, den Politikern und Entscheidungsträgern oder dem Volk und dem kleinen Mann?

Wenn wir uns die gesellschaftliche Situation anschauen, geht es im Kern nicht um eine Reduktion von emotionalen Entscheidungen, sondern um die Bereitschaft, Fakten, Sinnhaftes und Notwendiges wieder viel stärker zuzulassen und eigene Wünsche – erst recht bevorzugte Ideologien – im Licht eines Diskurses um des Gemeinwohls willen einer Prüfung zu unterziehen. Denn authentisch getroffene emotionale Entscheidungen sind als solche zu erkennen und meist auch sehr glaubwürdig und nachvollziehbar. Machen jedoch Menschen ihr Wünschen und Wollen zum Maßstab, verdrehen und kaschieren sie ihr Vorhaben so, um sich nicht als Egomanen zu outen, dass ihre Ziele möglichst als wichtig, richtig und notwendig erscheinen. Und zur ansprechenden ‚Verpackung’ werden positiv wirken sollende emotional eingängige Kurz-Botschaften genutzt. So wurde beispielsweise die Äußerung von Politikern, dass die Asylsuchenden als Arbeitskräfte wichtig für Deutschland seien, von den Medien ohne eine Überprüfung der Fakten aufgegriffen und immer erneut wiederholt, so dass die meisten Menschen irgendwann meinten, dass es so sei. Die nüchterne Bilanz vom Chef der Bundesagentur für Arbeit Frank-Jürgen Weise wirkt dann eher als Randnotiz: Nur 10 – 15% der Flüchtlinge sind gut und qualifiziert, die größte Gruppe hat praktische Erfahrungen aber keine anerkannte Ausbildung und ca. 20% haben weder einen Schul- noch Ausbildungsabschluss. „Damit ist klar: Flüchtlinge sind keine Antwort auf unseren Fachkräftemangel.“ (Interview in der RP vom 24.3.2013 Link: http://www.rp-online.de/wirtschaft/unternehmen/ba-chef-frank-juergen-weise-fluechtlinge-keine-antwort-auf-fachkraeftemangel-aid-1.6709807). Hier sind Fakten eindeutig: Die 10 – 15 % der „Qualifizierten“ müssten die Eingliederungskosten der Unausgebildeten sowie die Befähigungs- bzw. Ausbildungskosten für die dazu Bereiten ohne Schulabschluss und für die restlichen Unwilligen bzw. Unfähigen die Sozialhilfekosten zeitlebens übernehmen, vorausgesetzt diese Kosten sollen nicht zusätzlich die öffentliche Hand belasten. Das so auch nicht wirklich ein demografisches Problem zu lösen ist, dürfte klar sein.

Ist ein Umdenken, eine Umkehr oder ein Rückkehr zum dialektischen Ansatz und somit zu einer Auseinadersetzung mit Fakten möglich?

Als der weltbekannte Kommunikationsforscher Paul Watzlawick im Jahre 1976 sein berühmt gewordenes Buch: Wie wirklich ist die Wirklichkeit – Wahn, Täuschung, Verstehen in Deutschland veröffentlichte, ging es um ein Lehrbuch zum Konstruktivismus in der Psychologie. Hätte er gewusst, in welcher Intensität heute im Rahmen post-faktischer Diskussionen die Realitäten außer Kraft zu setzen versucht werden, hätte er sicher dazu ein Buch – jenseits psychologischer Deutungen – verfasst, wie sich durch ein Ignorieren oder Leugnen von Fakten eine Gesellschaft selbst abschafft. Daher ist eine grundlegende Umorientierung zwingend not-wendig, um sich nicht bald – mit Volldampf und Fun – ins Aus zu setzen, so wie die Titanic als sicherster Dampfer seiner Zeit, weil der Käpten die Eisberg-Warnung ignorierte, voll auf Kurs blieb und mit grandiosem Eventprogramm und toller Bordmusik voll in den Untergang schipperte.

Fakten außer Kraft setzen zu wollen, führt immer in kleine oder große Katastrophen. Um diese zu vermeiden, achten verantwortungsbewusste Unternehmen akribisch darauf, dass Produktionsabläufe, Kostenvorgaben, Zeitpläne, Reklamationsvorgänge und das Verhältnis von Umsatz und Gewinn im Blick gehalten werden, um nicht unverhofft-plötzlich in einen Konkurs zu geraten. Aber dazu sind Können, Selbstdisziplin, Denkfähigkeit, Geschicklichkeit, Frustrations-Toleranz, Konflikt-Management und soziale Kompetenz notwenig. Solche Persönlichkeits-Merkmale scheinen jedoch immer mehr Mangelware zu werden. So müssten sich alle gesellschaftlichen Kräfte darauf besinnen, was dem Gemeinwesen gut tut und wo eine Mischung aus Egoismus und Selbstdarstellungs-Ambitionen dieses Ziel behindert. Aber der Theologe Karl Rahner sagte einmal: „Das ‚In-Sich-Gehen’ ist die schwierigste Art der Fortbewegung.“

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Dr. Albert Wunsch
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler, Diplom Pädagoge und Diplom Sozialpädagoge. Bevor er 2004 eine Lehrtätigkeit an der Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann, leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre 2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni Düsseldorf und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach (DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern. Seine Bücher: Die Verwöhnungsfalle (auch in Korea und China erschienen), Abschied von der Spaßpädagogik, Boxenstopp für Paare und Mit mehr Selbst zum stabilen ICH - Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung, lösten ein starkes Medienecho aus und machten ihn im deutschen Sprachbereich sehr bekannt.