Wenn man die Biographien von „wichtigen Leuten“ liest, stößt man darin immer wieder auf Lehrer, die für ihr Leben von Weg weisender Bedeutung gewesen sind. Mit am häufigsten sind es Deutschlehrer, natürlich auch Religions- und Philosophie-Lehrer, jedenfalls in der Überzahl Lehrer mit geisteswissenschaftlichen Fächern. Offensichtlich helfen sie jungen Menschen am ehesten bei deren Sinnsuche.

Vertrauen durch persönlichen Kontakt

Er war für viele Jahre unser Klassenlehrer, abwechselnd unterrichtete er uns in Deutsch oder Englisch, vor allem in der wichtigen Zeit unserer geistigen Auseinandersetzung mit Themen wie Kollektivschuld, Todesstrafe, Ungerechtigkeit in der Welt, Liebe und Treue usw. Es war also damals auf einem Jungengymnasium, als es noch in der Oberstufe den Klassenverband und damit den Klassenlehrer gab. Er hatte uns von der Mittelstufe an begleitet und kannte uns alle gut, die wir als schwierige Klasse verschrieen waren, eben eine „wilde Jungenklasse“, die sich immer wieder neue Dinge einfallen ließen, um ihre Lehrer herauszufordern.

Man sah ihn oft im Gespräch mit Schülern, nach einer Deutschstunde, in der großen Pause, bei Spaziergängen bei einem Landschulaufenthalt. Er kannte die Familienverhältnisse seiner Schüler, wusste, wer eine Freundin hatte oder wer sie nicht mehr hatte, kannte die Stärken und Schwächen eines jeden. Wie sehr hat es mich beeindruckt, als er mich während einer dreitägigen grippalen Bettlägerigkeit zu Hause besuchte, mir ein Buch schenkte und gleich wieder verschwand.

Autorität dank anspruchsvollen Unterrichts

Sein Unterricht war herausfordernd, interessant und bewegte sich auf hohem Niveau. Es gelang ihm, den meisten in der Klasse, ein anhaltendes Interesse für Literatur einzupflanzen. Die Lektüre wichtiger Werke der Weltliteratur gehörte für ihn selbstverständlich zu einem gebildeten Menschen. Bei der Interpretation dieser Werke ließ er uns entdecken, dass alle Fragen, mit denen wir uns beschäftigten, in der Literatur vorkamen und uns somit weiteren Diskussionsstoff lieferten.

Als er uns zusätzlich zum Unterricht einen freiwilligen Arbeitskreis „Moderne Lyrik“ anbot, meldete sich mehr als die Hälfte der Klasse. Mit großem Gewinn interpretierten wir moderne Gedichte und mancher wurde zu eigenen Versuchen angeregt. Es kam etwas von der Atmosphäre auf, wie wir sie aus dem Film „Der Club der toten Dichter“ kennen.

Noch wichtiger als dieser Arbeitskreis war für diejenigen, die sich für die Aufführung von Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ meldeten, seine Regie und Führung bei den schauspielerischen Aufgaben. Er brachte uns bei, wie man exakt, aber ungekünstelt spricht, sich in ein Stück so hineinversetzt, dass man authentisch eine Rolle spielen kann und dass man die Scheu verliert, sich vor einem Publikum zu „produzieren“.

Einfluss über die Schule hinaus

Von seinem Privatleben wussten wir wenig. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihm eine zu persönliche Frage zu stellen. Trotz aller Nähe gab es die angemessene Distanz. Wenn wir aber etwas von ihm erfuhren, von seiner Familie, seinen Kindern, seinen persönlichen Vorlieben oder Ansichten, dann empfanden wir das immer als positiv und beispielhaft.

Man kann wohl sagen, dass seine größte Wirkung „zwischen den Zeilen“ lag, in seinen Reaktionen auf den einzelnen, in seiner Unterstützung und Hilfe, die er gleichmäßig jedem zukommen ließ, in seinem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und in seiner Fähigkeit, eigene Fehler einzugestehen, die Meinung der anderen gelten und sich von besseren Argumenten überzeugen zu lassen.

Es braucht nicht eigens erwähnt werden, dass er nie Disziplin-Probleme in der Klasse hatte, dass alle gerne seinem spannenden Unterricht folgten und ohne Murren die nicht geringen Hausaufgaben machten. Sicher ist es auch nicht zufällig, dass mehrere aus der Klasse nach dem Abitur Germanistik studierten oder den Lehrerberuf ergriffen.