Frau – Männin – Menschin: Zwischen Feminismus und Gender

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Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Butzon & Bercker


Klarstellungen aus christlicher Sicht durch Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz – In unserer Zeit scheint die Gender-Theorie als eine Variante des Feminismus allgegenwärtig und selbstverständlich zu sein, ohne dass den meisten Zeitgenossen klar wäre, was damit gemeint und – wichtiger noch – angezielt wird. Geht es denn nicht um Gleichberechtigung und Gleichstellung von Mann und Frau in allen Bereichen der Gesellschaft? Kann man denn dagegen etwas einwenden? Dass es um nicht weniger geht als um ein Umerziehungsprogramm für die ganze Menschheit, ist den wenigsten bewusst.

Es ist ein großes Anliegen von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, dieses Umerziehungsprogramm „Gender-Mainstreaming“ als Ideologie durchschaubar zu machen und zugleich zu Besinnung und Einspruch aufzurufen.

In ihrem Buch versucht sie immer neue Facetten des Themas „Feminismus und Gender“ in den Blick der Leser zu rücken: historische, anthropologische, theologische, politische, die sich aus acht in sich geschlossenen Beiträgen zu einem Gesamtbild fügen, das dem Leser ein eigenständiges Urteil erlaubt. Dass jeder Einzelbeitrag in sich verständlich ist, erlaubt es aber auch, besonders interessierende Aspekte auszuwählen, ohne dass Verständnisprobleme entstehen würden. Freilich bringt das für denjenigen, der das ganze Buch kontinuierlich liest, manche Wiederholungen mit sich, was jedoch kein Nachteil sein muss.

Der Titel des Buches macht schon klar, dass die Frauenfrage wichtig ist, aber sie ist es als Frage nach dem Geschichts- und Selbstverständnis des Menschen überhaupt, das heißt es geht um die Geschlechterfrage, nicht im biologischen Sinn, sondern im kulturellen.

Dieser provozierende Haupttitel „Frau – Männin – Menschin“ soll auf Einseitigkeiten im zeitgenössischen feministischen Diskurs verweisen (Überwindung der Weiblichkeit bis zur Überwindung der Geschlechtlichkeit). Dem will die Autorin den weitgehend verdeckten Anstoß des Christentums entgegensetzen.

Gender in Theorie und Praxis

In der Menschheitsgeschichte hat sich die Sicht des Zueinanders von Mann und Frau mehrfach gewandelt, aber die Unterschiedlichkeit beider Geschlechter war nie eine Frage – bis in unsere Zeit, bis zu Gender.

Das Zentrum aller Beiträge in diesem Buch: Fließende Identität? Gender – eine Theorie auf dem Prüfstand. Zunächst stellt die Autorin die Theorie des konstruierten Geschlechts in ihrer Radikalität dar und fragt dann, welche Verbindung diese Theorie mit dem heute politisch geforderten Gender-Mainstreaming habe.

In der Gender-Theorie sei eine Krise des Leibes feststellbar: einerseits die Überbetonung der Leiblichkeit, andererseits deren Auflösung zum virtuellen Körper, der lediglich als soziales Konstrukt gesehen, selbstbewusst gestaltet und inszeniert werden solle. Das ist kennzeichnend für die Gesamtsicht.

Sexualität – so wird in dieser Version des Feminismus behauptet – sei konstruiert, nicht wesenhaft gegeben und folglich wandelbar. Sex als biologische Komponente wird auf gender, die kulturell zugeschriebene Rolle, zurückgeführt, wird als angeblich nur soziales Bedürfnis entlarvt und zur Dekonstruktion freigegeben: Das Ausschöpfen aller sexuellen Möglichkeiten, insbesondere des Lesbentums, soll Frauen von bisherigen „Konstruktionen“ freisetzen. So solle bei allen Menschen die „Zwangsheterosexualität“ überwunden werden – auch durch Inzest, Transvestismus und Geschlechtsumwandlung. Gegen eine „nicht autonom erstellte Identität“ wird eine „fließende Identität“ im Sinne des totalen Selbstentwurfs gesetzt.

Obwohl es bereits innerfeministische Kritik an der Gender-Theorie gibt, bleibt der Radikal-Konstruktivismus (bis in die Grammatik hinein) wirksam, z.B. in der Praxis der Gegennormierung: Homosexualität wird als politisches Mittel eingesetzt, um die Gesetzgebung zur Abschaffung bisheriger Normierungen zu zwingen und die individuelle Wahl variabler Geschlechtsbetätigung außerhalb irgendwelcher Normen zu ermöglichen.

Die Autorin sieht darin einen normativistischen Fehlschluss, dem jeder Sachbezug fehlt. Bei der Behauptung von „fließender Identität“ gebe es zwei blinde Flecken; nämlich 1. den übergangenen Leib und 2. die übergangene Generativität (Fortpflanzung) – mit erheblichen Folgen für die Demographie!

Wie schon in den vorangegangenen Beiträgen setzt die Autorin dieser Theorie die Forderung nach Rückbesinnung auf die gemeinsame Personalität von Mann und Frau entgegen: Geschlechtlichkeit als naturhafte Vorgabe kultivieren! Das bedeutet: erotische Erfüllung im anderen und generative Erfüllung im Kind als Ziele der Geschlechtlichkeit, wozu zwei verschiedene Geschlechter vorauszusetzen sind.
Nach der allgemein-anthropologischen Sicht werden Lösungen im Christentum in den Blick genommen – und zwar biblische Texte als Erkenntnisquelle befragt, die auch Einsicht in Fehlentwicklungen ermöglichen:

Vergötterung des Geschlechts wird als Götzendienst abgewiesen

Egozentrischer Selbstgenuss, der den anderen nur werkzeuglich nimmt, gilt als Unzucht. Einem übersteigerten Idealismus, der das Geistige als alleinigen Maßstab gelten lassen will, werden die Glaubensüberzeugungen von Inkarnation, leiblicher Auferstehung und Kirche als Leib Christi entgegengestellt sowie die Ehe als Sakrament, was auch die Rückbindung des Geschlechts an den ganzen Menschen bedeutet. Eros, Zeugung und Geburt werden in den Bereich des Heiligen einbezogen. Im christlichen Glauben geht es um das Bewusstsein „einer in Gott überwundenen Spaltung“, um den „Überstieg zum gemeinsamen göttlichen Ursprung“.

Was nun hat die Gender-Theorie mit dem von Brüssel verordneten Gender-Mainstreaming zu tun? Die Definition des Europarats von 1998 liest sich folgendermaßen: Gender-Mainstreaming besteht in der (Re-)Organisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluierung politischer Prozesse mit dem Ziel, eine geschlechterbezogene Sichtweise in alle politischen Konzepte auf allen Ebenen und in allen Phasen durch alle an politischen Entscheidungen beteiligten Akteure und Akteurinnen einzubeziehen.

Dieses „Ungetüm von Begriff“ ist derart unklar, dass man diesen „Nicht-Begriff“ mit Gerl-Falkovitz nur als eine Art Zauberformel bezeichnen kann, die es ermöglicht, unliebsame Einwände fernzuhalten und pragmatisch vorzugehen.
Auch wenn mit dieser Formel offenbar nicht der beschriebene radikal-dekonstruktivistische Ansatz gemeint ist, erlaubt sie in ihrer Vagheit auch radikal-feministische Interpretationen. Und es bleiben insgesamt viele kritische Punkte, die von der Autorin aufgeführt werden, z.B.:

  • Wie steht es um die Kriterien einer „geschlechterbezogenen Sichtweise“?
  • Ist Evaluation nicht unmöglich?
  • Wie steht es um die Konkretisierung im Hinblick auf Bereiche der Ungleichheit?
  • Ist die Aufteilung in eine männliche und weibliche Welt nicht ein Dualismus, 
der lebenspraktisch überbrückt werden müsste?
  • Ist gender-freies Denken bereits maskulin oder politisch unkorrekt oder voraufklärerisch? Wo beginnt eine neue Ideologie?

Wenn Leiblichkeit und Generativität ernst genommen würden, könnte Frauenpolitik nicht nur Gender-Politik sein. Wie wäre es mit einem „Kinder-Mainstreaming“? Zu befürchten ist, dass Gender bisherige Maßstäbe des Weltverhaltens negativ verdrängt und vereinseitigt, z.B. die qualitative Beurteilung von Ethik: Abgesehen von der Tatsache, dass Abtreibung als Kindstötung im Mutterleib ein Unrecht gegenüber dem Kind und vor Gott ist, müssten Feministinnen selbst die Frage aufrichtig zu beantworten suchen, ob Abtreibung frauenfreundlich oder frauenfeindlich ist.

Als „Schwesternschaft“ wird ein globales Selbstverständnis aller Frauen vorausgesetzt. Das ist realitätsblind. Der Riss im Selbstverständnis der Frauen – global gesehen – werde immer größer: Kulturell und religiös begründete Sichtweisen lassen sich kaum noch miteinander vereinbaren.

Auch im Zusammenhang mit Gender fordert die Autorin, die Aussagen des Evangeliums als mögliches Korrektiv ins Spiel zu bringen und den Horizont der Lösung der Geschlechterfrage nicht nur innergesellschaftlich anzusetzen.
Christentum lehrt einen Vorbehalt, in dem politisches Tun als notwendig, aber vorläufig und kontingent erscheint. „Säkulare Heilsideen müssen christlich immer erneut auf ihren totalitären Kern hin kritisiert werden. Solche Gesellschaftspolitik erlaubt Optionen, verhindert aber Fundamentalismen, auch solche der ‚Befreiung’.“

Das bedeutet meines Erachtens vor allem, das Konzept des „Selbstentwurfs“ im Sinne von „wie Gott sein wollen“ in seiner Hybris und seinem Machbarkeitswahn zu durchschauen und aufzugeben. Wie aktuell die Gender-Thematik ist und wie notwendig die Auseinandersetzung mit ihr, belegte die Einladung zu einem Kongress in Berlin vom 28. bis 30. Oktober 2010: Das flexible Geschlecht. Gender, Glück und Krisenzeiten in der globalen Ökonomie, veranstaltet von der Bundeszentrale für politische Bildung. „All genders welcome!“

Fazit

Überblickt man die Fülle an Aspekten, die Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz in diesem Buch differenziert ausgebreitet und bearbeitet hat, dann wird klar, wie machtvoll – im positiven wie negativen Sinn – der Feminismus im 20. Jahrhundert gewirkt hat. Sein Beitrag zur Überwindung von Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen, die Erweiterung ihrer Lebensmöglichkeiten ist positiv zu verbuchen. Aber verhängnisvolle Einseitigkeiten, Ab- und Irrwege haben auch die notwendige Kritik gefunden.

Es ist klar geworden, dass es nicht nur um die Frauenfrage gehen kann, sondern die Geschlechterfrage im Blick bleiben muss. Das ist inzwischen ein Gebot der Stunde: Was ist gewonnen, wenn die Dominanz von Männern über Frauen abgelöst wird durch die Dominanz von Frauen über Männer? Wir können inzwischen sehen, dass dies für beide Geschlechter und für die Gesellschaft von Nachteil ist. Wir brauchen notwendig die christliche Sicht von der gleichen Würde von Mann und Frau als Personen und ihrer Unterschiedlichkeit zu gegenseitiger Ergänzung – auch mit Blick auf die Kinder und den Bestand des Volkes.

Aber wird diese Sicht, die Gerl-Falkovitz in ihrem Buch entfaltet, in unserer weithin entchristlichten westlichen Welt wohl verstanden? Mir scheint, sie müsste zunächst in der Kirche selbst kraftvoll zum Tragen kommen. Dann könnte sie ausstrahlen – im Rahmen der Neuevangelisierung Europas. In diesem Sinn empfehle ich dringlich die Lektüre dieses Buches und die Weitergabe der gewonnenen Einsichten, zumal es die Autorin versteht, den Leser auf ihre Denkwege mitzunehmen und ihm zugleich eigene Denkwege offen zu halten.