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Das Jahr 1900 hat mit der Veröffentlichung der entscheidenden Werke dreier hervorragender Geister eine gewaltige Wende in den modernen Wissenschaften erlebt: Zwei Revolutionäre drängten nach der Zukunft, der Physiker Max Planck (Quantentheorie) und der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl (Logische Untersuchungen); und ein großer Konservativer, der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud (Traumdeutung), versuchte, das wacklige Gebäude der alten Naturwissenschaften zu retten, indem er es auf die Struktur der menschlichen Seele anwandte.
Die Freud´sche Prämisse
Planck überwindet ganz bescheiden die Newton’sche Physik der starren Systeme, der voraussehbaren und berechenbaren Kausalketten, in der die Kontinuität der natürlichen Vorgänge herrschte. Von nun an verschwindet die Natur, die keine Sprünge macht, aus unseren Augen.
Husserl befreit sich von den denkerischen, vorwissenschaftlichen Annahmen, die allen Wissenschaften des 19.Jahrhunderts zugrunde lagen, und die in allen menschlichen Erscheinungen immer wieder „etwas ganz anderes, dahinter Steckendes“ suchten. Damit gelingt es ihm, durch die unmittelbare Anschauung, den Menschen in seinen Äußerungen und Erscheinungen zu sehen und das eigentlich Menschliche zum Vorschein treten zu lassen.
Freud hingegen bleibt den alten Naturwissenschaften mit all ihren unbewussten Postulaten treu und versucht, das „Mensch-Maschine“-Bild mittels Psychoanalyse in Schutz zu nehmen, gerade in dem Augenblick, als die naturwissenschaftliche Medizin angesichts der Überschwemmung mit „seelischen Krankheiten“ in eine Sackgasse geraten war. Von rein technisch-mechanistischer Denkungsart geprägt, konnte seine geniale Beobachtungsgabe die menschlichen Erscheinungen gar nicht anders deuten: Die Seele konnte vom Naturwissenschaftler nur als eine Art Apparatur begriffen werden, an der es allerlei rein physikalische Vorgänge zu beobachten gab. Maschinenteile (Ich, Es, Über-Ich, Bewusstsein, Unterbewusstsein), Umwandlung bestimmter Energien oder Kräfte (Projektion, Konversion, Sublimation, Ladung, Entladung, Verdrängung): Eine höchst komplizierte Maschinerie, in der sich aber zuletzt alles auf eine einzige Kraft zurückführen lässt, die Libido oder den Trieb.
Diese Arbeitshypothese, mit der man ausnahmslos alles im menschlichen Leben erklären wollte, sollte – nachdem der Widerstand einer prüden, gesellschaftlichen Ordnung einmal gebrochen war – lärmende und marktschreierische Popularität in unserer technisierten Welt gewinnen, die darin eine nette Mischung von „magischen“ geistigen Elementen und physikalischen Deutungen, Begriffen und Worten erblickte. Dabei handelte es sich um nichts weiter als eine unbewiesene, vorwissenschaftliche Annahme.
Freud selbst hat dies in seiner bewundernswerten Ehrlichkeit zugegeben: „Wir bemühen uns um eine dynamische Auffassung der menschlichen Erscheinungen. Die wahrgenommenen Phänomene müssen in unserer Auffassung gegen die angenommenen Strebungen zurücktreten!’
Unter dem Zwang der alten physikalischen Vorstellungen wähnte Freud, hinter allen menschlichen „Betriebsbewegungen“ eine einfachere Ursache (nämlich den Trieb) finden zu müssen, die das Echte, das Eigentliche sei, während das, was uns erscheint (Verhalten, Kultur, Liebe, Religion) immer das Unechte, das Täuschende, die Unwahrheit bilden müsse. „Damit hat er in der Tat von vornherein jede Möglichkeit aus der Hand gegeben, die Dinge selbst (die menschlichen Phänomene) in ihrer eigenen und unmittelbaren Wirklichkeit zu erfassen“, hat sein Schüler und großer Überwinder, der Zürcher Medard Boss, geschrieben.
Die Reduzierung des Menschen auf seine Triebe
Die Annahme des Vorhandenseins der Triebe als Elementarkräfte, auf die alles Menschliche zurückführbar sei, ist reine Glaubenssache; sie ist ebenso unbewiesen wie die Umwandlung solcher bloß biologischer Energien in gefühlsmäßige oder geistige Leistungen und Handlungen. Die Freud’sche Theorie lässt all dies nicht nur unbewiesen und unhaltbar, sondern nach den aufrichtigen Worten des ehrenwerten Professors aus Wien IX, Berggasse 19, auch „rätselhaft wie zuvor“.
Nimmt man die Existenz solcher Triebe an, so gerät man bei der Deutung der mannigfachen und feingliedrigen Erscheinungen des menschlichen Lebens in grobe Schwierigkeiten, muss man die Maschinerie komplizierter machen, muss man neue Triebe „enthüllen“ – McDougall entdeckte über dreißig Triebe bei seiner Mensch-Maschine! – und muss unter dem Druck des Vereinfachungsbedürfnisses gleichzeitig immer neue künstliche Umsetzungen jener Kräfte annehmen, um alle auf eine einzige, ursprünglichere Hauptenergie den Sexualtrieb Freuds, den Willen zur Macht Adlers reduzieren zu können …
Außerdem hat die Trieblehre eine Menge Missverständnisse über grundsätzliche Fragen hervorgerufen: die Selbständigkeit des Sexuellen dessen angebliche Unwiderstehlichkeit jede Verantwortung aufhebt. So entfernt man sich von der Wirklichkeit in dem Maß, als die leib-seelische Einheit des Menschen verletzt wird. Ein anderes, durch die Trieblehre heraufbeschworenes Missverständnis bildet die verbreitete und als selbstverständlich angenommene Meinung, dass alle Triebe letzten Endes auf Befriedigung und auf die damit verbundene Lust abzielen: eine rein physikalisch-gedankliche Konstruktion, die auch eine bestimmte, eigennützige Weltanschauung voraussetzt. Nach dieser Theorie wird jede Verdrängung und Stauung triebhafter Impulse unvermeidlich Spannungen, Störungen, Krankheiten verursachen; ihre Befriedigung hingegen Lust, Ruhe, Gesundheit.
Erkenntnisse der jüngeren Psychologie
Eine vorurteilsfreie Beobachtung menschlichen Verhaltens ermöglicht der jüngsten Psychologie, Verdrängung und Befriedigung als dem Menschen gleich eigentümliche, naturhafte Phänomene zu erkennen, die nur im Zusammenhang mit einer Reihe anderer menschlicher Werte Gesundheit oder Krankheit, Ruhe oder Spannung, Lust oder Unbehagen zu verursachen imstande sind. In Bezug auf den so genannten Sexualtrieb spielt die Liebe die entscheidende Rolle: Enthaltsamkeit aus Liebe ist beruhigend und befreiend, Geschlechtsverkehr aus Liebe desgleichen. Die „Stimmung“, die die ganze Welt färbt und formt, bestimmt ja letztlich alle Beziehungen der Menschen untereinander, besonders die Art und Weise des Da- und So-Seins als „Mit-Sein“ in der Liebe.
Die unbestrittene Größe Freuds besteht – abgesehen von der Begründung der Psychotherapie – darin, dass er die Liebe wieder in den Mittelpunkt des normalen und des krankhaften Menschenbildes gerückt und die Aufmerksamkeit der entfremdeten Wissenschaft wieder auf die Liebe gelenkt hat. Schade, dass er die große Wende der modernen Kultur – die Atomphysik und neue Psychologie entstehen ließ – übersehen hat; schade, dass auch noch heute nach einigen wichtigtuerischen Verhaltensforschern, die seine eisern unbewegliche Denkart bewahrt haben, „wir Menschen“ aus mechanischen, bestenfalls noch animalischen Triebketten bestehen. Schade, dass Freud unter dem Druck der alten naturwissenschaftlichen Zwangsvorstellungen das zentral wahrgenommene Phänomen der Liebe so peinlich auf vorfabrizierte, rein erdachte Triebe reduzieren sollte.
Schon seit langem kann die Psychologie die Forschungsstrenge und Redlichkeit Freuds viel getreuer befolgen, als dies der Vater der Psychoanalyse zufolge seiner Befangenheit in naturalistischen Theorien tun konnte. Sie kann sich mit dem Wahrgenommenen beschäftigen und auf den Rausch des Vorangenommenen verzichten. Die Liebe nimmt man nämlich wahr, die Triebe wurden hingegen noch nie beobachtet, und vielleicht sind sie gar nicht vorhanden. Was sich nur als Art und Weise der Beziehungen des Menschen zur Welt, zu den Mitmenschen, zu den Dingen, zu Gott erweist, sollte nicht vergegenständlicht werden. Die Schwerhörigkeit der Psychoanalytiker, denen Freud, wenn er noch lebte, keinesfalls mehr folgen würde, und die Unbeweglichkeit der anderen „Gläubigen“ der Trieblehre – denen sogar Geistliche, die sich für modern halten, zuzuzählen sind – können nur als erstaunlich bezeichnet werden.
Von Max Scheler über Jaspers und Gabriel Marcel, Adler, Allers und Binswanger zu Weizsäcker, Gebsattel, Boss und Frankl, um nur einige weltbekannte Forscher unserer Zeit zu nennen, wurde die Liebe auf ganz anderer Basis studiert, das Sexuelle vom Standpunkt der Liebe aus glänzend erklärt und damit wirklich „Modernes“ begründet – im Bereich des Normalen wie im Bereich des Krankhaften.
Die so genannten „orthodoxen Psychoanalytiker“ von heute sind hoffnungslos auf die alte Lehre fixiert, wie wenn nichts geschehen wäre. Dass oben genannte Psychologen und Psychotherapeuten zwar aus der Schule Freuds hervorgegangen sind, seine genialen Beobachtungen mit einer neuen Mentalität jedoch weiter entwickelt und geprägt haben, diese Tatsache scheint spurlos an den Neu-Freudianern vorübergegangen zu sein.
Untrennbare Ganzheit der Liebe
Liebe ist kein sublimierter Trieb, kein Gefühl, keine Bewegung, keine Empfindung, sondern eine Art und Weise des In-der-Welt-Seins, bei der eine Ich-Du-Einheit begründet wird, eine „Wirheit“ (Binswanger), die die Überwindung aller Enge, Angst, Sinnlosigkeit, Vereinzelung und Nichtigkeit mit sich bringt. Die Einheit, die die Liebe stiftet, ist nicht nur Einheit zwischen dem Ich und dem Du, sondern Einheit mit der Welt und Einheit im Raum der einzelnen Liebenden, bei denen Geist und Leib ein gemeinsames Erleben haben. Ein auf ganz materialistische und eigennützige Basis gestelltes Verhältnis zur Umwelt führt zur Beeinträchtigung und Einengung der Liebe, die dann tatsächlich keine Liebe mehr ist und in verschiedene Entartungen geistiger, emotioneller und sexueller Natur abgleitet.
Augenscheinlich gering ist die Zahl der glücklichen, sich entfaltenden, reifen Liebenden angesichts einer in unseren Tagen mit beängstigendem Ausmaß um sich greifenden Engstirnigkeit und Eigensinnigkeit so vieler Menschen, die sich in Form einer unersättlichen Erotik äußert, die nicht nur manche Ehen scheitern lässt, sondern auch sonst in zahlreiche Perversionen mündet. Eine von der Liebe getrennte Geschlechtlichkeit, eine bloß leibliche Erfahrung, gewährt wahrhaftig keinen Einblick in die Tiefe der menschlichen Erfahrungswelt. Man lernt unterscheiden, was nur in der restlosen Hingabe des ganzen Ich gegenüber dem ganzen Du, die die endlose Einheit zwischen zwei einzigartigen und einmaligen liebenden Menschen stiftet, Sinn und Fülle zu finden vermag. Welche Naivität und Plumpheit viele „erfahrene“ junge Ehepartner (insbesondere Männer) zeigen, wissen Psychologen, Sexologen und Priester heute zur Genüge.
Die auf die Liebe hingeordnete Einheit des menschlichen Daseins wird, wie Max Scheler meisterhaft darlegt, durch die Natur selbst in Schutz genommen, und zwar durch das Schamgefühl. Dieses bedeutet weder Unwissenheit noch Angst, weder Prüderie noch Koketterie, sondern gerade Hort für das „Individuum“ (das Unteilbare) und dessen Werte, bedeutet Zuflucht der einheitlichen Liebe, die keine Äußerung des geschlechtlichen „Impulses“ erlaubt, wenn die Ganzheit der echten Liebe noch nicht geboren ist; das Schamgefühl formt menschlich das Geschlechtliche und lässt es harmonisch wachsen. Die feinfühligen Zärtlichkeiten der Liebenden, die Empfindsamkeit der edlen Menschen haben nichts zu tun mit der Albernheit der Ungebildeten. Die Feinheit des wahren Schamgefühls stammt aus starken und hohen Leidenschaften, nie aus Engstirnigkeit und vorurteilsbelasteter Feindlichkeit dem Leib gegenüber.
Unaustauschbarkeit der geliebten Person
Nicht irgendeine psychische oder physische Eigentümlichkeit „am“ Partner wird von der Liebe „gemeint’, sondern das einmalige und einzigartige So-Sein der geliebten Person. Die Liebe meint nicht diese oder jene Eigenschaft, die der andere „hat, sie meint vielmehr das, was er in seiner Einzigartigkeit ist (Viktor E. Frankl)“. Da körperliche oder seelische Eigenschaften nie absolut einmalig und einzigartig sind (man kann immer „andere“ und „bessere“ finden), würde man das An-ihnen-kleben-bleiben fälschlich für Liebe halten, und es wäre zur Enttäuschung – vielleicht sogar zum Tausch verurteilt.
Daher hat die selbstbetrügerische Haltung vieler Mädchen, die durch starre Nachahmung unpersönlicher Modetypen die Einmaligkeit und Einzigartigkeit ihres Wesens preisgeben oder wenigstens verdecken, zur Folge, dass sie von sexuell erregten oder emotionell verliebten Männern bloß ausgetauscht werden. „Wir sind nicht untreu, wir verwechseln sie!“, sagt ganz unverblümt der Protagonist einer italienischen Erzählung. „So bleibt echte Liebe als eine geistige Beziehung zum Geistigen des anderen, als Ansichtigwerden eines Du in dessen So-und-nicht-anders-Sein von jener Vergänglichkeit verschont, von der die bloßen Zuständlichkeiten körperlicher Sexualität oder seelischer Erotik betroffen sind“ (V. E. Frankl). Dieses Du ist unaustauschbar und unvertretbar, und deshalb ist die Beziehung zu ihm unenttäuschbar und unvergleichlich, das heißt unauflösbar, „stärker als der Tod“.
Geschlechtliche Liebe kann Austragung der Liebe ins Leibliche sein, kein Beweis für die Liebe aber, auch wenn sie als solche öfters gefordert wird. Wer aber das Vergängliche und Austauschbare als Beweis für zeitloses und Einzigartiges verlangt (besonders in Form des vorehelichen, immer spannungsgeladenen, neugierigen, ungeschickten und als außerordentliche „Leistung“ empfundenen Geschlechtsverkehrs), der hat schon das Recht über Bord geworfen, als Mensch behandelt und geliebt zu werden.
Das Leibliche aber kann die Liebe sowohl durch sexuelle Hingabe als auch durch sexuelle Enthaltsamkeit austragen. Alles hängt davon ab, dass sich der Mensch durch das Opfer des eigensüchtigen Ich zugunsten der geliebten Person (Mensch oder Gott, Gott durch die Menschen) hingibt und sich vollendet.