Wer sich darum bemüht, die menschlichen Tugenden zu leben, merkt bald einmal, dass sein Verhalten nicht immer seinen Wünschen entspricht. Manchmal scheint es, als ob sich alle schlechten Neigungen auf einmal erheben würden, um uns vor Augen zu führen, wie wenig wir taugen.

Hilfe gegen den Hochmut

Wir spüren in unseren Gliedern, was der hl. Paulus so ausdrückte: „Ich weiß ja, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt; denn das Wollen liegt bei mir, das Vollbringen des Guten aber nicht. Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich; sondern was ich nicht will, das Böse, das vollbringe ich“ (Röm 7,18 f.).

Allein – dank seiner menschlichen Leistung – kommt der Mensch nicht weit. Doch die göttliche Gnade befähigt ihn dazu, das Bild Gottes in ihm zur Entfaltung zu bringen. Gott verlangt von uns nicht, „Supermenschen“ zu sein, sondern vielmehr anzuerkennen, dass wir Geschöpfe sind, die alles von ihm benötigen. Wer diese Tatsache aus den Augen verliert, wird früher oder später das Streben nach dem Guten aufgeben und lediglich nach dem trachten, was ihm am besten passt. Oder aber er wird sich entmutigen, wenn er die Diskrepanz zwischen seinem Wollen und seinem Tun erfährt.

Ein Perfektionist, der aus lauter Eigenliebe um seine Vollkommenheit strebt, wird bald aufgeben, wenn er nicht vorher einsieht, dass dieser innere Kampf nur um der Liebe willen einen Sinn hat. Ohne Demut gibt es keine Tugend. Denn die Demut ist die Wahrheit – über uns selbst, über Gott, über die ganze Schöpfung. Demut ist „hinblickend auf Gott und die eigene Kreatürlichkeit, die Haltung der restlosen Anerkennung dessen, was, kraft göttlichen Willens, wirklich ist; sie ist einfältige Hinnahme vor allem dieses Einen: dass der Mensch und die Menschheit nicht Gott ist und nicht wie Gott“ (Pieper, Das Viergespann, S. 264).

Der Demut entgegengesetzt ist das weit verbreitete Laster des Hochmuts (Stolz), das die schlimmste und lächerlichste Sünde ist. Weshalb? Der Stolz ist eine subtile Täuschung. Der Mensch hält sich für etwas, das er in Wirklichkeit gar nicht ist. Er füllt sich mit Leere und bläst sich auf, indem er sich für etwas Besonderes hält, für etwas Besseres als die anderen. Ständig betrachtet er sich selbst, als ob er der Nabel der Welt wäre, und übersieht in seiner Blindheit die Realität der restlichen Welt. Er verachtet die anderen und hegt ständig den Anspruch, alle anderen hätten für ihn da zu sein.

Die Demut – wohl die schwierigste Tugend

Einige, recht untrügliche Zeichen mangelnder Demut sind folgende: denken, dass das, was man sagt oder tut, besser gesagt oder getan ist als von anderen, immer seine eigene Meinung durchsetzen wollen, die Ansichten anderer für belanglos halten, sich in Gesprächen als Vorbild hinstellen, negativ von sich sprechen, damit die anderen uns positiv widersprechen, sich weigern, unangenehme, „niedrige“ Aufgaben zu erfüllen, auffallen wollen, seine Fehler nicht zugeben wollen, denken, dass alle andern von uns zu lernen haben, immer den Fehler bei den anderen suchen statt bei sich selbst, sich nicht entschuldigen, obwohl man im Unrecht ist, für das Gute, das man in sich gewahrt, Gott nicht danken, den Willen Gottes nicht akzeptieren wollen, nicht daran glauben wollen, dass Gott das Beste für jeden Menschen möchte, Krankheiten, Traurigkeit und Probleme vortäuschen, damit uns andere bemitleiden, böse werden, wenn uns andere unsere Verfehlungen vorwerfen (vgl. Escrivá, Die Spur des Sämanns, Nr. 263).

Der Hochmut bewirkt, dass sich der Mensch in seinem Innern eine Scheinwelt aufbaut, die ihm viele unnötige Konflikte beschert. Die Seele leidet an Vorstellungen, die in der Realität gar nicht existieren. Dies erschwert den Umgang mit anderen Menschen, weil man sie ständig verdächtigt, dies oder jenes über uns gedacht oder gesagt zu haben. Der demütige Mensch hingegen sieht die Realität, so wie sie ist. Er betrachtet sich nicht als den Mittelpunkt, sondern Gott und in Gott die anderen Menschen, die es nach Tatkräften zu unterstützen und zu erfreuen gilt.

Stolze Menschen sind unfähig zu lieben, da sie nicht geben können, ohne etwas als Gegenleistung zu erwarten. Wenn sie jemanden „lieben“, dann nur, weil dieser Mensch ihnen etwas nützt. Mit dem Demütigen hingegen ist der Umgang ein Vergnügen. Der Demütige steht nicht über den anderen, denn er weiß, dass wir alle von Gott abhängig sind. Es verachtet weder die Meinung der anderen, noch überbewertet er sie, denn er kennt die Grenzen der menschlichen Natur. Er achtet die anderen trotz ihrer Schwächen, weil er weiß, dass er in dieselben Fehler fällt, wenn Gott ihm nicht beisteht.

Ängstlichkeit, Niedergeschlagenheit, Unsicherheit, Komplexe, krankhafte Unterwerfung: dies alles hat nichts mit Demut zu tun. Denn Demut ruft Freude und Sicherheit hervor; der Mensch weiß sich von Gott geliebt und getragen – zu allem fähig, was positiv und gut ist, da er den ganzen Himmel auf seiner Seite hat. Er weiß sich zu viel mehr fähig als ein Mensch allein vermag. Weil der Stolz ein Laster ist, das tief im Menschen steckt, gibt uns Gott die Mittel, um in der Demut zu wachsen: Wer Gott um die Tugend der Demut bittet, ist auf dem besten Weg, sie zu erlangen. Als zweites ist die Ehrlichkeit mit sich selber, mit Gott und seinem geistlichen Führer unerlässlich, um die Wahrheit über sich selbst zu erkennen. Wer seine Schwächen demütig anerkennt und immer wieder von vorne beginnt, ohne aufzugeben, den wird Gott reichlich mit seiner Gnade beschenken. In seiner großen Demut bemerkte der hl. Johannes der Täufer: „Er muss wachsen, ich aber abnehmen“ (Joh 3,30), und Maria, die von Gott als Mutter Christi auserwählt wurde, sagte in ihrer tiefen Demut: „Gnädig schaute Er herab auf die Niedrigkeit seiner Magd (…). Großes tat an mir der Mächtige und heilig ist sein Name. Sein Erbarmen gilt von Geschlecht zu Geschlecht“ (Lk 1,48 ff.).