Es war schon von dem „Geheimnis des Rosenkranzes“ die Rede, seiner unerwarteten, hilfreichen Wirkung auf die Betenden. Man spricht aber auch im engeren Sinne von „Geheimnissen“ des Rosenkranzes, wenn die darin betrachteten einzelnen Themen, die Episoden aus dem Leben des Jesus Christus gemeint sind. In diesem Sinne bezeichnen die „freudenreichen Geheimnisse“ die Ereignisse um Geburt und Kindheit, und die „lichtreichen“ sind jene, die das irdische Wirken Jesu zum Inhalt haben.

Dagegen nennt man die Stationen der Passion Christi die „schmerzhaften“ Geheimnisse und jene, die von seiner Auferstehung handeln logischerweise die „glorreichen“. In diesen etwas altmodisch klingenden seit alters her überlieferten Benennungen spiegelt sich eine Sprache, die vielleicht nicht mehr der unserer Alltagswelt entspricht; aber dafür sind sie unmittelbar verständlich. Ein Sonderfall sind die „lichtreichen“ Geheimnisse, die erst von Johannes Paul II. eingeführt wurden (1).

Ein weihnachtlicher Anfang

Der erste der vier weltweit verbreiteten Teile des Rosenkranzes hat auf den ersten Blick etwas Weihnachtliches. Er behandelt die Ereignisse um die Geburt Jesu, aber auch seine Kindheit. (2). Gerade in diesen im Jahresverlauf meist wenig beachteten Geschichten steckt spirituell so einiges drin – und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Es beginnt mit der Empfängnis Jesu und geht über den Besuch Marias bei ihrer Kusine Elisabeth, der Mutter Johannes’ des Täufers, weiter zur Geburt Jesu in Bethlehem. Die beiden abschließenden Geheimnisse betrachten die Darstellung Jesu im Tempel in Jerusalem und sein Auftreten dort als Zwölfjähriger.

„Geheimnisse“ ist eine überaus zutreffende Bezeichnung, denn hier können wir erahnen, was die Menschwerdung Gottes bedeutet, und wir kommen dem Geheimnis der Trinität, der Dreifaltigkeit Gottes, nahe. Es wird auch auf bewegende Weise deutlich, dass Gott die Menschen mit einem freien Willen geschaffen hat, den er respektiert. Wir spüren zugleich, warum das Alte Testament für uns relevant ist, und erahnen, dass in dem „verborgenen Leben“ Jesu, in seiner Familie in Nazareth, eine unüberbietbare Würdigung, ja sogar Heiligung des menschlichen Alltags und des Familienlebens zu sehen ist. Das betende Meditieren dieses „freudenreichen“ Rosenkranzes bringt uns also eine Vielzahl von zentralen Glaubensinhalten nahe. Und bei jedem der Geheimnisse bietet sich uns die Chance, Bezüge zu unserem eigenen Leben, unserem gewöhnlichen Alltag herzustellen.

Der historische Jesus in action …

Der von Papst Johannes Paul II. eingeführte „lichtreiche“ Rosenkranz – die erste Erweiterung seit Jahrhunderten – schließt die Lücke zwischen Geburt und Kindheit auf der einen und Passion und Auferstehung auf der anderen Seite. Der inzwischen heilig gesprochene Johannes Paul II. hatte, mit dem ihm eigenen feinen Gespür für die spirituellen Bedürfnisse unserer Zeit, das irdische Wirken Jesu in den Mittelpunkt des neuen Rosenkranzes gestellt. Gerade das Wirken des „historischen Jesus“ macht es uns heute leichter, Gott wieder nahe zu kommen – trotz des verbreiteten Verlustes von spiritueller Wahrnehmungsfähigkeit.

Die fünf Geheimnisse dieses „erdverbundenen“ Rosenkranzes zeigen uns Jesus, der sich von Johannes dem Täufer – dem letzten der alten Propheten – im Jordan taufen lässt und sich bei einer Hochzeit erstmals, quasi beiläufig, zu erkennen gibt. Wir betrachten dann seine Verkündigung, sein lehrendes Wirken im ganzen Heiligen Land – und denken dabei an die Bergpredigt ebenso, wie an seine Gerichtsreden und seine unermüdliche Verkündigung der Liebe Gottes und des rechten Lebens der Gläubigen. Wirklich geheimnisvoll ist die Begebenheit seiner „Verklärung“ auf dem Berge, eine Szene, in der drei Jünger einen kurzen Einblick erhalten durften, der über menschliche Erfahrung hinaus geht. Am Ende steht die Einsetzung der Eucharistie durch Jesus (man kann sagen: die Geburtsstunde der Kirche) unmittelbar vor dem Beginn der Passion.

Alle diese wichtigen Begebenheiten aus dem irdischen Wirken Jesu sind ungemein bildhaft und eindrucksvoll; sie zu meditieren stellt uns Jesus so plastisch vor Augen wie es sonst nur selten möglich ist. Wir können ihm durch das Heilige Land folgen, uns vorstellen, wie er an bekannten Stätten gewirkt hat, predigend, heilend (3). Ich gestehe, dass dieser Teil ein wenig mein Lieblings-Rosenkranz ist.

Von Schmerzen und Leiden

Ein besonders ergreifender Rosenkranz behandelt die Passion Jesu, sein Leiden und Sterben. Der Name „schmerzhafter Rosenkranz“ ist zunächst etwas gewöhnungsbedürftig; es tut ja nicht weh, wenn man ihn betet, und nach dem Beispiel der anderen würde man eher eine Bezeichnung wie „schmerzensreicher…“ erwarten. Aber die alte, traditionelle Benennung hat – bei näherem Hinsehen – doch auch viel für sich. Wenn man sich betend-meditierend darauf einlässt, die Leiden Jesu innerlich miterlebt und in gewisser Weise mitfühlt, dann passt das Wort „schmerzhaft“ durchaus. Vielleicht haben wir uns nur zu sehr an die Stationen des Leidenswegs gewöhnt, kennen sie aus der Kirche, oder zumindest aus der Kunst. In der Meditation können sie vor unsere Augen treten – und das ist emotional wirklich eine Herausforderung: Es beginnt mit dem angstvollen Beten Jesu im Garten Gethsemani, stellt uns die Geißelung, eine brutale Auspeitschung, vor Augen und die grausame, blutige Verhöhnung mit der Dornenkrone. Wir folgen dem Weg des gefolterten Jesus, der sein eigenes Kreuz tragen muss, bis zur Kreuzigung (4).

Aber was zunächst belastend und schmerzhaft scheint, erweist sich dann doch als heilsam und erlösend. Und erst bei der Betrachtung des Leidens und Sterbens Christi wird auch die quälende Ratlosigkeit gestillt, die uns befallen kann, wenn wir fragen, warum es überhaupt Schmerz und Leid und das Böse gibt: Zu begreifen, dass Gott selbst mit uns und für uns leidet, ist tröstlicher und befreiender als alle klugen Erklärungen, seien sie argumentativ auch noch so ansprechend.

Worauf es am Ende ankommt

Der „glorreiche“ Rosenkranz betrachtet Auferstehung und Himmelfahrt Jesu und die Aussendung des Heiligen Geistes. Abschließend steht dann Maria selbst im Mittelpunkt, mit der gemeinsam wir alle diese Begebenheiten aus dem Leben und Wirken Jesu betrachtet haben; diese letzten zwei Gesätze, die Marias Aufnahme in den Himmel und ihre „Krönung“ (5) zum Inhalt haben, stellen uns die Voraussetzung dafür vor Augen, dass es überhaupt Sinn hat, den Rosenkranz als eine Folge von Ave Maria zu beten, in denen die Gottesmutter verehrt (6) und um ihre Fürbitte gebeten wird.

Schon der Apostel Paulus hat mit deutlichen Worten klargestellt, dass es den christlichen Glauben ohne die Auferstehung Jesu nicht geben kann: „Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos und ihr seid immer noch in euren Sünden; und auch die in Christus Entschlafenen sind dann verloren. Wenn wir unsere Hoffnung nur in diesem Leben auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher daran als alle anderen Menschen“ (7).

Also kommt es am Ende hierauf an: Das größte Geheimnis von allen, das zugleich das revolutionärste Ereignis der Menschheitsgeschichte ist, die Auferstehung Jesu. Diese unglaubliche und doch ganz reale Glaubenstatsache und die wunderbaren Konsequenzen daraus – für Maria und für uns – meditierend zu begreifen, ist gewissermaßen der Höhepunkt unserer christlichen Meditation.

Hier wird sehr schön deutlich, was mit der „Fülle“ (s.o.) der christlichen „Old School“-Meditation gemeint ist, im Gegensatz zur programmatischen „Leere“ als Ziel anderer Meditationsformen: Nicht das Vergessen, Verdrängen und Verlieren, nicht das Abtöten von Empfindung (sei es Leid oder Liebe) ist das Ziel, sondern das Heilen und Bewahren, Vergeben und Erneuern. Nicht das Erlöschen im Nichts, sondern das Erlösen zur Fülle des Guten in Gott steht im Mittelpunkt. Mehr als ein Happy End, ein wunderbarer Anfang…


Anmerkungen


(1) Im deutschen Sprachraum gibt es noch einen weiteren Rosenkranz, der sich mit der „Ewigkeit“ beschäftigt, also Tod und Auferstehung zum Inhalt hat.
(2) Zur theologischen Erläuterung und zum Verständnis des spirituellen Gehalts der Kindheitsgeschichten vgl.: Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Prolog. Die Kindheitsgeschichten. Freiburg, Basel, Wien 2012.
(3) Vgl.: Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Freiburg, Basel, Wien 2006.
(4) Zum Verständnis der Passion Christi vgl. am besten: Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Zweiter Teil. Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Freiburg, Basel, Wien 2010. Kap. 8.
(5) Eine bildhafte Hervorhebung der besonderen, herausragenden Rolle der Gottesmutter unter allen Heiligen.
(6) Selbstverständlich wird Maria nicht „angebetet“, vgl. hierzu Katechismus der Katholischen Kirche, Kompendium. München 2005. Nr. 198.
(7) 1 Kor 15, 17ff.