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Sind Sie schon einmal jemandem begegnet, der weder Schreiben noch Lesen kann? Der Sie vor einem Straßenschild gefragt hat, wie die Straße heißt? Oder im Supermarkt, was auf der Verpackung steht? Oder der Sie gebeten hat, ihm die Speisekarte vorzulesen? Das passiert in Deutschland nicht mehr? Das ist ein Irrtum. Die Wahrscheinlichkeit, einem Analphabeten zu begegnen, ist relativ hoch.
Kostenloses Hörspiel „Mit einem blauen Auge“ – über den Boxer Sven
„Schreib dich nicht ab. Lern lesen und schreiben!“ Mit der Kampagne iCHANCE wendet sich der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. gezielt an junge Erwachsene, die durch eine multimediale Kampagne angesprochen und zur Teilnahme an Grundbildungsangeboten motiviert werden.
Auf der Internetplattform www.iCHANCE.de kann man das sehr gut gemachte Hörspiel Mit einem blauen Auge anhören, das von dem jungen Boxer Sven handelt, der durch seine Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben immer wieder vor große Herausforderungen im Alltag gestellt wird. Das Hörspiel beruht auf einer wahren Geschichte.
Sven schämt sich lange, vor seinem Trainer diesen Mangel zuzugeben. In Restaurants meidet er Speisekarten, bestellt immer dasselbe und muss sich z.B. eine Telefonnummer aufschreiben lassen, um sich zu einem Date mit einem Mädchen zu verabreden. Projektleiter Timm Helten: „Für Jugendliche haben gerade die Stars Vorbildfunktion. Durch ihr Engagement für iCHANCE setzen sich die Künstler für eine bessere Grundbildung ein und machen den Betroffenen Mut, etwas an ihrer Situation zu ändern.“
Sachverständige für Alphabetisierung unter Vorsitz von Prinzessin Laurentien der Niederlande
Jeder fünfte Jugendliche im Alter von 15 Jahren (20%), aber auch viele Erwachsene verfügen nicht über grundlegende Lese- und Schreibfertigkeiten. Dies sind die jüngsten Ergebnisse des Programms zur internationalen Schülerbewertung PISA*, einer weltweiten Studie zu den Leistungen 15-jähriger Schüler in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Dies erschwert ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt und setzt sie dem Risiko sozialen Abstiegs und Ausgrenzung aus.
Die Europäische Kommission hat deshalb Anfang Februar 2011 eine unabhängige Expertengruppe eingesetzt, die nach Möglichkeiten suchen soll, die Schreib- und Lesekompetenz in der EU zu fördern. Prinzessin Laurentien der Niederlande ist Vorsitzende dieser Expertengruppe für Alphabetisierung, die für die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) tätig ist. Sie sagte: „Ich begrüße diese Initiative sehr; es ist höchste Zeit, dass Europa sich der unangenehmen Wahrheit stellt, dass es bei uns ein hohes Maß an Analphabetismus gibt. Diese Initiative wird auch dazu beitragen, das bisherige Tabu zu brechen. Analphabetismus steht dem wirtschaftlichen Wachstum und einer integrativen Gesellschaft entgegen. Indem wir dagegen vorgehen, werden wir auch einen Beitrag zur Lösung von Problemen in zahlreichen anderen Bereichen – Armut, Beschäftigungsfähigkeit, gesundes Leben – leisten können. Wir hoffen, gemeinsam mit den Experten auf diesem Gebiet eine kühne Vision zu den anstehenden Problemen entwickeln und zeigen zu können, wie Lese- und Schreibkompetenz dazu beiträgt, eine starke, wettbewerbsfähige Wirtschaft und eine gesunde Gesellschaft in der EU zu schaffen.“
Auch für Erwachsene ist rasches Handeln notwendig. Fast 80 Millionen Erwachsene in Europa – ein Drittel des Arbeitskräftepotenzials – verfügen nur über geringe bzw. grundlegende Lese- und Schreibkompetenz; andererseits wird geschätzt, dass der Anteil der Arbeitsplätze, die eine hohe Qualifikation erfordern, von derzeit 29 % bis zum Ende dieses Jahrzehnts auf 35 % steigen wird. Lesen und Schreiben sind essentielle Fähigkeiten; nicht zuletzt sind sie auch der Schlüssel zu weiteren Lernerfolgen.
Die Situation in Deutschland
In Deutschland verfügen schätzungsweise über vier Millionen Erwachsene über so geringe Lese- und Schreibkenntnisse, dass sie als funktionale Analphabeten gelten. Besonders bedenklich ist, dass jährlich ca. 70.000 junge Menschen die Schule ohne Abschluss verlassen und damit zur Risikogruppe gehören. Trotz Schulbesuchs fällt es ihnen schwer, Verträge zu lesen und zu verstehen, E-Mails zu schreiben oder sich an fremden Orten zu orientieren. Ungünstige soziale und schulische Umstände sowie fehlende zielgruppengerechte Angebote sind die Ursachen dafür, dass diese Jugendlichen keinen Zugang zur Schriftsprache bekommen
Was versteht man unter primärem, sekundärem und funktionellem Analphabetismus?
Primärer Analphabetismus liegt vor, wenn eine Person keinerlei Lese- und Schreibkenntnisse erworben hat. Eine andere Bezeichnung ist natürlicher Analphabetismus. Davon betroffen sind vor allem Menschen in Staaten mit einem wenig ausgebauten Schulsystem, die keine Gelegenheit zum (regelmäßigen) Schulbesuch hatten.
Von sekundärem Analphabetismus spricht man, wenn nach mehr oder minder erfolgreichem Schulbesuch ein Prozess des Vergessens einsetzt, bei dem einmal erworbene Schriftkenntnisse wieder verloren gehen. Die Kinder haben während der Schulzeit lesen und schreiben gelernt, als Jugendliche oder Erwachsene haben sie dies wieder verlernt.
Der Begriff des funktionalen Analphabetismus trägt der Relation zwischen dem vorhandenen und dem notwendigen bzw. erwarteten Grad von Schriftsprachbeherrschung in seinem historisch-gesellschaftlichen Bezug Rechnung. Innerhalb der entwickelten Industriestaaten mit ihren hohen Anforderungen an die Beherrschung der Schriftsprache müssen auch jene Personen als funktionale Analphabeten gelten, die über begrenzte Lese- und Schreibkenntnisse verfügen.
4 Millionen funktionale Analphabeten in Deutschland?
Es gibt keine gesicherten Daten zur Größenordnung des funktionalen Analphabetismus in Deutschland. Die Zahl 4 Millionen ist eine Schätzung, die sich an Studien wie der IALS, PISA und anderen orientiert. Genauere Informationen bekommen Sie in dem Buch Ihr Kreuz ist die Schrift.