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(Bild: Polyband)
Filmische Qualität: | 5 / 5 |
Regie: | Craig Mazin, Johan Renck |
Darsteller: | Jared Harris, Stellan Skarsgård, Emily Watson, Jessie Buckley, Paul Ritter, Sam Troughton, Adam Nagaitis, Adrian Rawlins, Alan Williams, David Dencik |
Land, Jahr: | USA 2019 |
Laufzeit: | 312 Minuten |
Genre: | |
Publikum: | ab 16 Jahren |
Einschränkungen: | Szenen mit offenkundig erotisierender Absicht |
Auf DVD: | 8/2019 |
„Was ist der Preis de Lüge? Wenn wir genug Lügen hören, erkennen wir die Wahrheit nicht mehr“. Damit beginnt die gerade auf DVD erschienene, fünfteilige Serie „Chernobyl“, die auf der Leit-Filmdatenbank IMDb die bislang in ihrer Geschichte höchste Bewertung erhalten hat. Diese Worte spricht Professor Valery Legasov (Jared Harris) auf Kassette. „Die werden es natürlich abstreiten ? Das tun sie immer“. Dennoch deponiert er die Kassetten an einem sicheren Ort, ehe er sich erhängt.
In einer ausgedehnten Rückblende rekonstruieren Drehbuchautor Craig Mazin und Regisseur Johan Renck die Ereignisse akribisch: „Zwei Jahre und eine Minute zuvor“, also am 26. April 1986, beobachtet ein junges Paar in Prypjat, der 50 000-Menschen-Siedlung vier Kilometer nordwestlich des Atomkraftwerks Tschernobyl, eine Explosion, die von einem erdbeben-ähnlichen Stoß begleitet wird. Der Mann gehört zum ersten Feuerwehr-Trupp, der im Atomkraftwerk das Feuer löschen soll. Vasily Ignatenko (Adam Nagaitis) wird einige Zeit später in einem Moskauer Krankenhaus an den Folgen der Radioaktivität sterben. Seine Frau Lyudmilla Ignatenko (Jessie Buckley) begleitet ihn bis zuletzt. In diesem Nebenstrang erzählt „Chernobyl“ von den Helden der Katastrophe.
Der Haupt-Erzählstrang dreht sich aber um die Ermittlungen, die im Auftrag des Kremls der stellvertretende sowjetische Premierminister Boris Shcherbina (Stellan Skarsgård) mit Unterstützung von Professor Legasov führt. Die von Shcherbina geleitete Regierungskommission soll auch Lösungen finden, um die vom Atomkraftwerk ausgehende Strahlung einzudämmen. Zu ihnen gesellt sich Ulana Khomyuk (Emily Watson) vom Weißrussischen Institut für Kernenergie Minsk, wobei es sich bei Khomyuk um eine fiktive Figur handelt, die eine ganze Reihe Wissenschaftler symbolisiert, die Legasov in den Wochen und Monaten nach der Katastrophe beriet. Ulana Khomyuk bemüht sich insbesondere darum, die genaue Ursache der Explosion herauszufinden.
„Chernobyl“ rekonstruiert nicht nur die Ereignisse ? sogar mit genauen Daten- und Uhrzeitangaben. Darüber hinaus besticht die detailverliebte Ausstattung von der charakteristischen Achtziger-Jahre-Kleidung, den Frisuren und Brillen sowie dem rötlich violetten Feuermal Michail Gorbatschows (David Dencik) über die Arbeitskleidung des Kraftwerkpersonals bis zu den Vorhängen an den Fenstern der Plattenbauten von Prypjat. Darüber hinaus sind die Bilder in dunkle gräuliche Farbtöne eingetaucht, die von einer minimalistischen Filmmusik untermalt werden.
Craig Mazin und Johan Renck gelingt es aber, über den dokumentarischen Perfektionismus hinaus einen Geisteszustand zu vermitteln, die von der Strahlenbelastung ausgehende unsichtbare Bedrohung sichtbar zu machen. Diese liegt nicht so sehr in kaum zu ertragenden Bildern der von der Strahlung zerfressenen Körper der Feuerwehrleute und des Kraftwerkpersonals oder in den schreckensjagenden Ausschlägen der Strahlenmessungsgeräte. In kleinen Szenen verdeutlicht „Chernobyl“, was die Katastrophe für einzelne Menschen bedeutet, etwa für die alte, Kühe melkende Bäuerin, die sich weigert, die Sperrzone zu verlassen. Oder für den jungen Rekruten, der es nicht übers Herz bringt, verstrahlte kleine Welpen umzubringen.
Der dokumentarische Charakter der Fernsehserie wird von den Archivaufnahmen vom Unfallort unterstrichen, die am Ende der letzten Folge eingeblendet werden. Die Gesichter der realen Menschen, die in „Chernobyl“ eine Rolle spielen, unterstreichen die Authentizität der Serie von Mazin und Renck. „Chernobyl“ schließt mit einer Widmung: „In Gedenken an all jene, die gelitten und sich geopfert haben.“
„Chernobyl“ geht es indes nicht um eine bloße Rekonstruktion der Ereignisse und deren Folgen. Abgesehen davon, dass die Filmemacher etwa auch die Machenschaften und die Gefängnisse des KGB zeigen, geht es in der Serie vor allem um die Wahrheit: „Jemand muss endlich die Wahrheit sagen“. Dies tat Legasov bei der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien im August 1986 jedoch nicht. Erst bei der Moskauer Gerichtsverhandlung gegen die Hauptangeklagten im Juli 1987 wird er sich dazu entschließen, es zu tun.
Für den Umgang des sowjetischen Apparats mit Wahrheit und Lüge im Zusammenhang mit der Tschernobyl-Katastrophe steht insbesondere ein Monolog anfangs, als die Schreckensmeldungen noch nicht bis zum Zentralkomitee in Moskau durchgedrungen sind. Der Vorstand des Atomkraftwerks Tschernobyl trägt im Kreise der örtlichen Parteiführung die von ihm vorgesehenen Maßnahmen gegen die größte Atomkatastrophe der Geschichte vor. Der alte Zharkov (Donald Zumpter), offensichtlich der starke Mann in der örtlichen Kommunistischen Partei, entgegnet freundlich aber bestimmt: „Wir riegeln die Stadt ab. Niemand verlässt sie. Wir kappen die Telefonleitungen, damit die Verbreitung von Desinformation eingedämmt wird. Damit verhindern wir, dass Menschen die Früchte ihrer eigenen Arbeit untergraben“.
Zharkov erscheint demnach als der perfekte Apparatschik, der die Dogmen der Sowjetunion über Menschenleben stellt. Um die Zehntausenden Tote in der Nordukraine oder die Hunderttausenden Vertriebenen ging es der Ideologie wohl kaum. Zharkov fordert die Teilnehmer an der Krisensitzung auf: „Habt Glauben, Genossen“. Dass dieser Glaube auf Lügen baute, ist die zentrale Aussage der „Chernobyl“-Serie. Ob Tschernobyl die Glasnot-Ära und damit das Ende der Sowjetunion einläutete, könnte Gegenstand einer zweiten „Chernobyl“-Staffel sein. In der ersten geht es um den „Preis der Lüge“.
„Chernobyl“. Fünfteilige Serie. Regie: Johan Renck, Großbritannien /USA 2019, 312 Minuten, EAN 4006448769642, 2 DVDs, EUR 15,89 (Amazon)