„Wer nicht erzieht, macht auch nichts falsch! Schließlich weiß ja keiner, was richtig ist. Und ehe ich mir vorwerfen lasse, das Falsche getan zu haben, sollen meine Kinder halt selbst entscheiden. Für mich jedenfalls ist Zwang ein verwerfliches Mittel. Schließlich wachsen heute halt alle freier heran!“, so das Kurz-Statement eines sich recht selbstbewusst gebenden jungen Vaters.

„Das darf doch nicht wahr sein, wie kann man denn einen solchen Schwachsinn von sich geben“, entrüstet sich eine engagierte Vollblut-Mutter. „Kinder brauchen Grenzen, klare Hinweise, wo’s lang geht und keine Selbstüberlassung. Eltern dürfen sich vor ihrer Verantwortung nicht drücken. Schließlich haben wir schon zu viele Jugendliche, die mangelhaft auf das Leben vorbereit wurden!“

Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss. (Immanuel Kant)

Auch wenn ein solcher Schlagabtausch die Gemüter anheizen mag, er enthält wenige konkrete Ansatzpunkte für ein angemessenes Erziehungsverhalten. Denn wie viel Entscheidungsfreiheit ist einem Kind zumutbar? Was passiert beim Nachwuchs, wenn Väter und Mütter ihre Kinder dauernd fragen, was sie denn zulassen oder vermeiden sollen?

Wo sind die Orientierungskriterien bei der Gratwanderung zwischen Unter- und Überforderung? Durch was werden aus wichtigen Hinweisen oder Anweisungen Befehle? Wie können Klarheit und Konsequenz ohne Härte und autoritäres Gebaren, wohlwollendes Verständnis ohne Inkonsequenz und Wegknicken gelebt werden?

Denn wenn Eltern permanent für Kinder Entscheidungen treffen, kann sich keine Eigenverantwortlichkeit entwickeln. Soll sich jedoch der Nachwuchs in der Selbstüberlassung zurechtfinden, fehlen ihm wichtige Ansatzpunkte für ein tragfähiges soziales Miteinander. Fakt ist, dass ein Heranwachsen zwischen Vernachlässigung und Überversorgung überlebenswichtige Bedürfnisse außer acht lässt.

Denn weder auf bloße Anpassung trainierte Lebewesen, welche wie Marionetten funktionieren, noch in scheinbarer Grenzenlosigkeit aufgewachsene Ichlinge, welche als asoziale Monster ihr Umfeld terrorisieren, werden den Anforderungen einer multikulturell geprägten Leistungs- und Konsumgesellschaft gewachsen sein. Eine qualifizierte Erziehung in Elternhaus, Kindergarten und Schule hat diese Vorbereitung auf ein durch Eigenständigkeit und Selbstverantwortung geprägtes Leben zu meistern.

Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf – in der Regel nicht!

„Aber wie sollen wir den vielfältigen Anforderungen als Eltern denn halbwegs angemessen nachkommen, wo wir doch im Grunde fachlich gesehen Dilettanten sind? Ein bisschen Kochen habe ich von Großmutter gelernt, Tanzen hat mir mein älterer Cousin beigebracht, als Sparkassenkauffrau kann ich mit Geld umgehen, die Führerscheinprüfung hat mich ganz schön gefordert und auf die Geburt unseres Nachwuchses habe ich mich per Schwangerschaftsgymnastik etwas einstellen können.

Aber ein Kind auf die Welt von morgen vorbereiten? Da fehlt mir schlicht alles!“ – Diese auch als Hilferuf zu verstehende Standortverdeutlichung einer jungen Mutter innerhalb eines Erziehungsseminars schien eine allgemeine Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen.

Erst geht’s ums Schlafen- und Essenlernen, die Wohnung wird für den Start in die Krabbelphase sicher gemacht, dann sollen die Kleinen aus den Windeln finden, jetzt kommt die Erprobung des eigenen Willens, die Vorbereitung auf den Kindergarten, Einschulung, das Meistern von Lernstoff, die Höhe des Taschengeldes, Anziehfragen oder Ausgehzeiten, Anteilnahme bei Liebes-Freud bzw. Beziehungs-Leid, … und dann steht da noch die Berufsentscheidung an. Alles ist darauf zu richten, dass Töchter und Söhne einen angemessenen Platz im Leben finden.

Kopf nicht in den Sand stecken

Trotz solcher Herausforderungen investieren zu viele jedoch nicht in eine elterliche Erziehungsqualifizierung, sondern stecken eher den Kopf in den Sand bzw. wurschteln sich mit dem durch, was ihnen Eltern oder Großmütter als ‚Gebrauchsanweisung’ für den Umgang mit den lieben Kleinen – direkt oder indirekt – mit auf den Weg gaben. Aber entweder wird dieses ‚Erste-Hilfe-Start-Set’ falsch eingesetzt oder es hat sein Verfallsdatum beträchtlich überschritten.

Die Folgen sind fatal: Während ein ständig wachsender Teil von Vätern und Müttern sich der per Zeugung eingeleiteten elterlichen Verantwortung in viel zu geringem Umfang stellt, versucht die Mehrheit sich per Überversorgung und Verwöhnung aus der Affäre zu ziehen. Insgesamt ist festzustellen, dass Eltern zu häufig zwischen den Extremen ‚Selbstüberlassung’ und ‚autoritären Anweisungen’ hin und her pendeln. So wird der in ein eigenständiges Leben führen sollende Umgang mit dem Nachwuchs kontinuierlich durch Unklarheit, Inkonsequenz, Resignation und eine ständig reduzierte Beziehungszeit stringent verunmöglicht. Eine solche Entwicklung wird jedoch schnell zum Horrortrip für viele, da so die psychische Stabilität des Einzelnen wie der Gesamtgesellschaft unterminiert wird.

(wird fortgesetzt)

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Dr. Albert Wunsch
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler, Diplom Pädagoge und Diplom Sozialpädagoge. Bevor er 2004 eine Lehrtätigkeit an der Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann, leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre 2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni Düsseldorf und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach (DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern. Seine Bücher: Die Verwöhnungsfalle (auch in Korea und China erschienen), Abschied von der Spaßpädagogik, Boxenstopp für Paare und Mit mehr Selbst zum stabilen ICH - Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung, lösten ein starkes Medienecho aus und machten ihn im deutschen Sprachbereich sehr bekannt.