Ohne Mäßigkeit gibt es keine wirkliche Liebe: weder Liebe zur Wahrheit noch Liebe zu einer anderen Person. Sexualität hat nur dann einen Sinn, wenn sie Ausdruck der Liebe ist und nicht einfach das Abreagieren der Triebe erzielt. Die körperliche Hingabe ist auch eine seelische Hingabe und kann nur dann in Liebe geschehen, wenn sie in eine dauerhafte Liebesbeziehung eingebettet ist und wenn sich die Partner in der Treue zueinander sicher und geborgen wissen.

Die wahre Liebe

Die einzige menschliche Bindung, die diesem Anspruch umfassend gerecht wird, ist die eheliche Bindung. Außerhalb der Ehe zerstört die Sexualität die personale Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau. Der Partner entartet dann leicht zum Objekt der eigenen Befriedigung, das unter Umständen ebenso leicht wieder auf das Abstellgeleis gestellt werden kann, wenn es nicht mehr interessant ist.

Für den hl. Thomas von Aquin ist es eine bare Selbstverständlichkeit, dass die Geschlechtskraft ein Gut ist. Mit Aristoteles sagt er, im menschlichen Samen sei etwas Göttliches. Völlig klar ist für Thomas, dass – wie Essen und Trinken – auch die Erfüllung des naturhaften Dranges der Geschlechtskraft und -lust gut ist, vorausgesetzt natürlich, dass Maß und Ordnung gewahrt sind. Denn der der Geschlechtskraft innewohnende Sinn, dass auch in Zukunft Menschenkinder die Erde und das Reich Gottes bewohnen, ist nicht bloß ein Gut, sondern sogar ein „überragendes Gut“.

Mittels der Tugend der Keuschheit wird die Geschlechtskraft von der Vernunft regiert und mündet ein in die Fortsetzung des Menschengeschlechts innerhalb der Ehe. Der Sexualtrieb wird so in die von Gott gewollte Schöpfungsordnung eingebettet. Mit ein wenig Anstrengung und der Hilfe Gottes ist der Mensch fähig, den Sexualtrieb dem Willen Gottes gemäß zu leben. Wenn der Mensch jedoch nicht bereit ist, den Willen Gottes zu suchen, und sich kampflos der Tyrannei seiner Instinkte überlässt, erniedrigt er sich unter das menschliche Niveau. Indes der Geist in beängstigendem Tempo an Wichtigkeit verliert, bis er schließlich ganz minimal zu sein scheint, gewinnt der Körper ständig an Bedeutung, tritt unverhältnismäßig stark in den Vordergrund und beherrscht am Ende alles.

Charakterbildung kostet Opfer

Um einen reifen und harmonischen Charakter heranzubilden, müssen wir von klein auf lernen, unsere eigenen Leidenschaften zu beherrschen. Wer seinen Körper mit allem Erdenklichen verwöhnt und ihm nie etwas versagen will, wird ihn schlussendlich als ein bloßes Werkzeug im Dienste des Egoismus gebrauchen. Doch je mehr der Mensch um sich selbst kreist, desto unglücklicher wird er. Wohl ist es bequemer, sich von den sogenannten natürlichen Trieben fortschwemmen zu lassen, aber am Ende des Weges steht nur das traurige Alleinsein mit dem eigenen Elend.

Unmäßigkeit, deren dominanteste Form die Unkeuschheit ist, zeitigt negative Folgen: Unvernünftigkeit, Überstürzung im Urteil, Charakterschwäche, Schlaffheit, Egozentrik, Sentimentalität, Aggressivität und Brutalität. Unkeuschheit zerstört im Menschen die Neigung, andere wirklich zu lieben, und führt letztlich auch zum Gotteshass. Unmäßigkeit bewirkt keineswegs größere Freude an der Lust. Im Gegenteil. Sie zerstört die „Lust an der Lust“ und führt zur Frustration.

Der Prozess lässt sich charakterisieren als ständig steigende Begierde mit zunehmend abnehmender Befriedigung. Das sinnliche Begehren besitzt nämlich die Eigenart, dass es ins Unendliche fortzuschreiten vermag. Und das kann es, weil ja auch das Begehren der Sinne immer das Begehren einer Person ist, die Vernunft besitzt. Die Vernunft des Unmäßigen stellt sich ganz in den Dienst der Sinnlichkeit, die eben deshalb nicht gesättigt werden kann, weil die Vernunft immer weiter von Begierde zu Begierde schreiten kann. Tiere können deswegen nicht unmäßig sein, weil sie nicht die Vernunft eines Menschen haben.

„Selig, die reinen Herzens sind“

In den ersten Jahrhunderten, inmitten einer hedonistischen Gesellschaft, hat die Kirche die Christen zur Mäßigkeit ermutigt. Der hl. Ambrosius schreibt, dass die Genüsse des Fleisches wie grausame Tyrannen seien, die – nachdem sie die Seele durch Unreinheit verunreinigt haben – sie unfähig zu heiligen Werken der Tugend machen. Christus sagt in den Seligpreisungen: „Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Die Reinheit ist unerlässlich, um das übernatürliche Leben der Gnade zu empfangen.
Wie für einen Vogel die Flügel unentbehrlich sind, so kann die Reinheit mit Flügeln verglichen werden, die den Menschen dazu befähigen, Gott und die Menschen zu lieben. Diese Flügel wiegen etwas, sie sind schwer (vgl. Escrivá, Freunde Gottes, S. 269).

Aber ohne sie würde der Vogel nicht bis hoch in die Wolken hinauffliegen können. Auch Schlamm oder Teer an seinen Flügeln würden ihn jämmerlich zugrunde gehen lassen, würde nicht ein tierliebender Mensch sie wieder reinigen und dem armen Tier abermals zur Freiheit der Himmelshöhen verhelfen. Nur wer die Tugend der Reinheit besitzt, vermag wirklich selbstlos zu lieben, denn er liebt die anderen nicht aus Egoismus. Die Reinen haben ein offenes Herz für alle Menschen und sind fähig, zärtlich zu lieben, ohne eine Gegenleistung zu erhalten.

Ohne die Tugend der Reinheit bleibt die Lehre Christi im Menschen unwirksam. Die Unreinheit verdrängt die Lehre Christi, will sie vergessen oder verändern, um die eigenen Leidenschaften zu rechtfertigen. Der Glaube an Gott schrumpft allmählich und wird je länger desto mehr ein Dorn im Auge.

Zwei Arten, die Keuschheit zu leben

Es gibt zwei Arten, rein zu leben, und beide sind heilig: Die Reinheit innerhalb der Ehe und der Zölibat. Jene, welche die Berufung zur Ehe erhalten haben, heiligen sich in der treuen Erfüllung der ehelichen Sendung, die für sie der Weg der Vereinigung mit Gott ist.

Wen Gott zum apostolischen Zölibat berufen hat, erhält von Gott in der totalen Hingabe an ihn und an die Menschen die Gnade Gottes, um glücklich zu sein und die Heiligkeit zu erreichen. Sowohl die einen wie die anderen müssen ihrem Treueversprechen treu bleiben. Die Keuschheit ist eine Tugend, welche die Liebe in jedem Abschnitt des Lebens jung erhält.

Die Ehe

In der Ehe beruft Gott Mann und Frau zur Teilhabe an seiner Liebe und Schöpferkraft – durch seine freie und verantwortliche Mitarbeit in der Weitergabe menschlichen Lebens. Es wäre pervers, die göttlichen Pläne in ein egoistisches persönliches Vergnügen umzuwandeln. Der hl. Thomas bemerkt dazu: „Gott hat jeder Funktion des menschlichen Lebens einen Genuss, eine Befriedigung zugeordnet. Dieser Genuss und diese Befriedigung sind folglich gut. Der Mensch verkehrt aber die rechte Ordnung der Dinge, wenn er diese Befriedigung als letzten Wert sucht und das Ziel verachtet, dem sie verbunden und untergeordnet ist.“

Wer sich in der Ehe für seine Familie einsetzt und sich selbst zu vergessen sucht, wird auf Erden glücklich sein. Doch auch der Ehestand hat Licht- und Schattenseiten: auf der einen Seite die Freude, sich geliebt zu wissen, davon zu träumen, eine Familie zu gründen und sie voranzubringen, die Kinder heranwachsen zu sehen, und auf der andere Seite Leid, Widerwärtigkeiten und den Lauf der Zeit erfahren, der den Körper verfallen lässt, die scheinbare Eintönigkeit der scheinbar immer gleichen Tage. In der Ehe begegnen wir Schmerz, Unverständnis des Partners, Problemen, Müdigkeit. Doch all diese Schwierigkeiten dürfen nicht das Ende von Liebe und Freude sein. Vielmehr ist erst dann, wenn wir den Kern des menschlichen Fühlens erreichen, die Zeit gekommen, in der sich Hingabe und Zärtlichkeit festigen und als eine Liebe erweisen, die stärker ist als der Tod.

Der Zölibat

Viktor E. Frankls Lehre über den Sinn als Fundament eines geglückten Lebens hat in Bezug auf den Sinn des Zölibats eine unbestreitbare Gültigkeit: Wenn das ganze Leben nur im Rahmen des Dienens und des Liebens seinen Sinn gewinnt, so gilt das noch viel mehr vom Leben dessen, der für immer Diener ist, Diener und sogar „unnützer Diener“, vom Leben des Priesters, fortgetragen in einer Reinheit der Hingabe, die von keinem egoistischen Ballast beschwert sein sollte – etwa von der Suche nach Anerkennung, Selbsterfüllung, Selbstverwirklichung oder persönlichem Erfolg. In einer seiner lesenswerten Untersuchungen hält Eugen Minkowsky plötzlich inne und ruft voll Bewunderung: „Das Leben (…) ist für die Selbsthingabe gemacht.“

Einmal sagte ein Journalist zu Mutter Teresa, die Welt verstehe den Sinn der Jungfräulichkeit nicht, worauf die Ordensschwester antwortete: „Dies nicht zu verstehen, ist die größte Torheit. Die Jungfräulichkeit ist eine herrliche Gabe Gottes: Was Gott geschaffen hat, ist wunderbar. Und das größte Geschenk, das ein junger Mann einem Mädchen geben kann, und das ein Mädchen einem jungen Mann am Hochzeitstag geben kann, ist dieser jungfräuliche Leib, ein reines, jungfräuliches Herz.

Die jungen Leute verstehen diese Dinge. Sie wollen ein gottgeweihtes Leben. Und mittels dieser Weihe Christus mit absoluter Liebe und Keuschheit lieben. Nichts, niemand: Das ist die wahre Freiheit der Armut. Das, was alle ergreifen wollen, das Streben aller, nicht wahr: die Freiheit. Die Armut ist für uns Freiheit. Du kannst alles haben, was du willst, aber ich will nichts, ich will nur frei sein. Die Jungfräulichkeit im religiösen Leben bedeutet eine totale Vereinigung mit Gott, eine Vermählung mit Gott.“

„Nicht alle fassen dieses Wort, sondern nur jene, denen es gegeben ist. Denn es gibt Ehelose, die vom Mutterleib an so geboren sind, und es gibt Ehelose, die von Menschen eheunfähig gemacht wurden; und es gibt Ehelose, die um des Himmelreiches willen sich der Ehe enthalten. Wer es fassen kann, der fasse es!“ (Mt 19,11 f.)

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Pia Bühler
Pia Theresia Bühler, 1959 in den USA geboren, erhielt in Zürich die Ausbildung zur Grundschullehrerin und studierte anschließend Heilpädagogik in Zürich und Journalistik in Freiburg. Neben ihrer Tätigkeit als Journalistin und Pädagogin hält sie Vorträge zur christlichen Glaubenslehre und Persönlichkeitsbildung. ----- zu den Texten über Tugenden: Die Textauszüge entstammen dem Buch Die Tugenden - Werte zum Leben von Pia Bühler. Es ist im Sankt Ulrich Verlag erschienen, mit dessen freundlicher Genehmigung wir sie übernommen haben. Das Copyright verbleibt beim Verlag.