Interview mit Dr. Albert Wunsch – das Interview führte Andrea Wohnhaas.

Sie umschwirren ihre Kinder wie Hubschrauber von morgens bis abends, stimmen ihr ganzen Leben auf das der Söhne und Töchter ab. Überbesorgte Mütter und Väter fahren ihre Kinder mit dem Auto bis vor die Schultüre, tragen ihnen den Schulranzen, organisieren die Freizeit, gehen mit auf den Fußballplatz. Auf den Spielplätzen sieht man oft mehr Erwachsene als Kinder; Eltern, Großeltern und Freunde richten ihren Fokus ganz auf den Nachwuchs. So viel Betreuung und Umsorgen hat es selten gegeben. »Eltern, die glucken, tun ihren Kindern keinen Gefallen«, sagt Albert Wunsch, Dozent für Erziehungswissenschaft an der Katholischen Fachhochschule Köln. Im Interview plädiert er dafür, die Kinder nicht zu kleinen Prinzen und Prinzessinnen zu machen und ihnen mehr abzuverlangen.

Herr Wunsch, ist diese Darstellung übertrieben?

Das Phänomen ist nicht neu. Helicopterparents nennen Pädagogen diese überbesorgten Eltern, die wie Hubschrauber über ihren Kindern kreisen und ihnen jede Schwierigkeit aus dem Weg räumen wollen. Hubschraubereltern sind dauernd in Alarmbereitschaft und im Einsatz. Es gibt heute sogar Eltern, die Sprechstunden bei den Professoren an den Unis beantragen!

Welche Ursache vermuten Sie dahinter?

Diese Eltern haben zu wenig mit sich selbst zu tun, sie können auch nichts mit sich als Paar anfangen. Je weniger Sinnhaftigkeit das Paarleben hat, desto mehr muss das Kind herhalten, um zur Sinnerfüllung für das Paar zu werden. Wenn die Kinder selbstständig werden, fallen diese Eltern in ein tiefes Loch. 25 Jahre lang haben sie ihr ganzes Sein über ihre Elternrolle definiert und dabei in der Beziehungsrolle verloren. Beziehungsprobleme produzieren Erziehungsprobleme, Erziehungsprobleme produzieren Beziehungsprobleme.

Heißt das, dass bei Hubschraubereltern die Paar-Beziehung aus dem Lot ist?

In gewisser Weise ja. Je intensiver eine Frau in der Mutterrolle aufgeht, desto mehr wird sie in der Beziehungsrolle untergehen. Wenn die Ehemänner und Väter vergessen haben, dass sie mit der ehemaligen Geliebten/Verlobten noch verheiratet sind, dann klammert sich diese Frau in ihrer Suche nach Zuwendung ans Kind. Deshalb sollten auch die Väter dafür sorgen, dass die Beziehung stabil ist.

Steckt hinter dem »Hotel Mama« also mehr als Bequemlichkeit?

Wer sich über Jahrzehnte hinweg nur in der Elternrolle sieht, kann eigentlich gar nicht anders als an seinem Kind festzuhalten. Solange die Beziehung zum Partner instabil ist, werden Eltern an den Kindern krallen. Es klammern übrigens nicht nur die Mütter, sondern auch die Väter. In Italien hat das Erziehungsministerium eine Prämie ins Gespräch gebracht, damit die Nesthocker aus den Elternhäusern entfernt werden, eine Entsorgungsprämie sozusagen: Eltern sollen mit einem bestimmten Betrag belohnt werden, dass sie ihre 25 – 35 jährigen Söhne und Töchter nicht mehr umsorgen.

Verwöhnen allein Erziehende mehr?

Oft ja. Allein erziehende Mütter sind hochrangig prädestiniert für Verwöhnung, denn der Ex-Ehemann ist schon abhanden gekommen und nun wollen sie als Mutter ganz viel investieren, damit die Beziehung zu Sohn oder die Tochter nicht auch noch bricht. Das nennt man Überkompensation. Dann lässt man drei eben gerade sein, dann dürfen die Kinder Filme anschauen, für die sei eigentlich noch zu klein sind. Das geht sogar so weit, dass Kinder bis zehn oder zwölf Jahren im Bett der Mutter schlafen dürfen!

Viele Eltern schenken ihren Kindern ihre ganze Aufmerksamkeit. Was bewirkt es beim Kind?

Das hat massive Auswirkungen. Ein solches Kind kann sich gar nicht eigenständig entwickeln. Manche Sportvereine verbieten es den Eltern und Familien, näher als einen Meter am Spielfeldrand zu stehen. Denn die Hubschraubereltern feuern unangemessen stark die Kinder an, sie greifen ins Spielgeschehen ein, und oftmals greifen sie sogar den Schiedsrichter an, weil der anscheinend übertalentierte Sohn durch einen falsche Entscheidung das Tor nicht anerkannt bekommen hat. Es ist krankhaft, was da passiert.

Vielleicht brauchen diese Eltern Superkinder.

Ja, manche Eltern brauchen ihr Kind für ihr eigenes Wohlergehen. Es wird zum Projekt, zum Statussymbol, das man vorzeigen kann: mein Auto, mein Haus, mein Kind. Menschen mit diesem Luxusdenken müssen ihr Sein übers Haben definieren. Dann hat man Kinder, und diese Kinder haben einen bestimmten Status: Klassenbester, der Erster im Sportverein oder ein toller Geiger…

Hat das auch damit zu tun, dass Familien heute weniger Kinder haben?

Das gehört ebenfalls zum Projekt. Zehn Kinder zu haben, war für den Bauern früher kein Projekt; die Kinder waren die Frucht der Freude oder der Lust. Heute werden Kinder genau geplant, das fängt schon dabei an, dass sie steuerlich berücksichtigt werden, dass sie in der idealen Jahreszeit zur Welt kommen. Diese starke Fokussierung kann man sich auch nur bei einem Kind leisten.

Das bedeutet, das Kind ist auch dem Stress ausgesetzt, sich in irgendeiner Weise von den anderen abzuheben.

Ja, massiv. Aus der Überintensität an Zuwendung entwickelt sich ein überproportionales Selbstbewusstsein. Die Kinder meinen, sie seien wer, weil eben der ganze Familienclan zum Kinderfußballturnier kommt. Wenn die überversorgten und verwöhnten Kinder dann in die Grundschule kommen, sitzen auf einmal 30 Prinzen und Prinzessinnen in einer Klasse.

Dann haben wir einen Prinzenauflauf und dann merken die Kinder auf einmal: ich bin ja gar nicht mehr der Mittelpunkt der Welt. Das zehrt natürlich massiv an ihrem Selbstbewusstsein. Heute haben Lehrer in den ersten 14 Tagen der Grundschule nur die Aufgabe, den Kindern klarzumachen, ihr seit ein Teil von 30 und nicht mehr. Auch wenn es nirgends im Curriculum steht, ist das Lernziel der ersten zwei Schulwochen, den Kindern ein normales Selbstbild zu vermitteln, um angemessen unterrichten zu können. .

Müsste so etwas nicht schon Kindergarten ansetzen?

Ja, aber im Kindergarten üben die Eltern oft massiv Druck aus. Immer mehr Eltern betrachten den Kindergarten als Dienstleistungsunternehmen. So wie sie in den Laden gehen und dies und jenes für ihr Geld kaufen, so kommen die Eltern in den Kindergarten: Mein Kind ist zwar mit vier Jahren noch nicht sauber, aber dafür zahle ich schließlich Gebühren. Die anderen müssen es richten – diese Dienstleistungsmentalität gibt es inzwischen in vielen Bereichen.

Dass Eltern stolz auf ihre Kinder sind, muss nicht falsch sein, und Lob schadet doch auch nicht.

Angemessenes Lob schadet nicht. In dem Moment, wo echte Anforderungen auf das Kind zukommen, ist bei den Prinzen und Prinzessinnen die Resignation vorprogrammiert. Und wenn sie dann in der Schule, Ausbildung oder im Beruf eine Bauchlandung erleben, sagen die Eltern, dass die Schule, der Betrieb oder wer auch immer etwas falsch macht. Es ist kein Zufall, dass die Menschen immer jung bleiben wollen, denn jung sein bedeutet auch, keine Verantwortung zu übernehmen und möglichst auch noch mit den Schecks von Vater und Mutter zu leben.

Was bewirken Eltern durch Überbehütung und Verwöhnen?

Sie hindern das Kind daran, selbstständig und selbstverantwortlich im Leben zu stehen. Ein solcher Mensch braucht dauernd andere, die ihm zuarbeiten, ihm Rückendeckung geben und ihm zujubeln. Und er braucht jemand, der ihn bei der kleinsten Problematik sofort aufbaut. Das kann die Mutter später nicht mehr übernehmen.

Viele Eltern sagen: das Leben ist später hart genug, dann sollen die Kinder wenigstens in guten und schönen Rahmenbedingungen groß werden.

Wenn die Kinder aus den warmen Treibhäusern der elterlichen Verwöhnung an die Frischluft gesetzt werden, sind sie eben nicht gerüstet für alle möglichen Winde, Stürme und widrigen Verhältnisse, die das Leben eben so bietet. Wenn ich heute von der Spaßpädagogik rede, bekomme ich oft zur Antwort: das ist keine Spaßpädagogik, im Gegenteil, unsere Kinder sind überfordert. Genau das ist es: Wenn man als Kind nicht in einer angemessenen Weise gefordert wird, ist man ruckzuck überfordert.

Alle wünschen sich starke Kinder, und die Eltern tun doch alles dafür.

Eltern, die ihre Kinder ständig umkreisen, stellen ihre Kinder stark heraus, aber sie machen sie nicht stark. 25 % der Kinder, die eingeschult werden, sind in ihrem Bewegungsapparat unterentwickelt. Das ist die Kehrseite der Verwöhnung. Die Kinder bewegen sich heute nicht mehr. In Hamburg gab es eine Untersuchung über die Schulwege. 27 % der Kinder, die mit dem Auto zur Schule gefahren wurden, hatten einen Weg von weniger als 800 Metern.

Was macht Kinder stark?

Man braucht sie nicht stark machen, sondern intensiver lassen. Das beginnt schon ganz früh. Ein acht Monate altes Kind will seine Umwelt erkunden und robbt durch die Wohnung. Wenn es einen Ball oder eine Puppe entdeckt, will es dorthin. Und das sollte man auch lassen. Aber die meisten Mütter holen den Ball oder die Puppe und legen es dem Kind vor die Nase. Wenn man einem Marathonläufer kurz nach dem Start sagen würde, hier hast du schon mal die Urkunde, der würde sie erschlagen.

Wenn man heute auf Spielplätze kommt, sieht man häufig mehr Erwachsene als Kinder. Ist es nicht auch ein Angriff auf die Freiheit, wenn die Mutter immer um das Kind kreist?

Früher sind die Kinder häufig hinter die Büsche gegangen, um sich vor den Erwachsenen zu verstecken. Und heute steht hinter jedem Busch eine Mutter. Die letzte Möglichkeit, unsere Kinder zu überwachen, geschieht über Handy. Ich habe den Eindruck, dass viele Handys in Kinderhände kommen, weil die Mütter kontrollieren wollen, wo sie gerade sind.

Müssen die Eltern also rechtzeitig lernen, sich aus der Welt der Kinder zurückzuziehen?

Im Grunde ist der erste Schritt die Ent-Bindung. Dann gibt es anschließen eine starke emotional-soziale Verbindung. So wie die Nabelschnur mit einem Schnitt durchtrennt wurde, muss anschließend die soziale Nabelschnur mit vielen kleinen Schnitten getrennt werden. Am 21. oder 22. Geburtstag müsste das komplett beendet sein.

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Dr. Albert Wunsch
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler, Diplom Pädagoge und Diplom Sozialpädagoge. Bevor er 2004 eine Lehrtätigkeit an der Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann, leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre 2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni Düsseldorf und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach (DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern. Seine Bücher: Die Verwöhnungsfalle (auch in Korea und China erschienen), Abschied von der Spaßpädagogik, Boxenstopp für Paare und Mit mehr Selbst zum stabilen ICH - Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung, lösten ein starkes Medienecho aus und machten ihn im deutschen Sprachbereich sehr bekannt.