Pontius Pilatus ist der mit Abstand berühmteste Amtsträger der Welt. Kein anderer Statthalter, Warlord oder sonstiger Inhaber einer staatlichen oder ähnlichen Position kommt da heran, auch wenn man sämtliche Kaiser, Könige, Präsidenten etc. dazu rechnet. Kein anderer Name eines Potentaten, Fürsten, Diktators oder Generals wird auch nur annäherungsweise so oft genannt – von Caesar und Augustus über Karl den Großen, Barbarossa und Karl V. bis zu Kaiser Wilhelm und den britischen Royals; von zeitgenössischen Präsidenten, Ministerpräsidenten usw. ganz zu schweigen. Der Grund dafür ist natürlich, dass Pilatus’ Name im christlichen Glaubensbekenntnis vorkommt und deshalb seit zwei Jahrtausenden unzählige Milliarden Male ausgesprochen worden ist und immer weiter ausgesprochen werden wird.
Was macht Pilatus im Credo?
Nun kann man fragen: Was hat überhaupt der Name eines römischen Statthalters des 1. Jahrhunderts in unserem Glaubensbekenntnis verloren? Wir haben uns daran gewöhnt, aber ist das nicht eigentlich sonderbar? Die Antwort ist einfach: Der christliche Glaube gründet auf realen, historisch belegten Geschehnissen[1], nicht auf wilden, blumigen Mythen und auch nicht auf philosophisch-religiösen Gedanken-Konstruktionen. Zu diesen realen Geschehnissen gibt es eine faktenbasierte Chronologie, und über diese kommt Pontius Pilatus ins Credo[2]. Denn ganz egal welchen Kalender oder welche Zeitrechnung man benutzt, die Amtszeit dieses speziellen Statthalters, des Mannes der Jesus verurteilte, lässt sich geschichtlich immer auffinden und der Ablauf der Geschehnisse damit zeitlich fest machen und überprüfen. Und jedes einzelne Mal wenn jemand das Credo betet wird klar, dass es um diese Realität geht, nicht um Mythos oder Legende!
Wer war der Mann?
Pontius Pilatus wurde im Jahre 26 n. Chr. der fünfte Statthalter der römischen Provinz Judäa, ein Amt, das er für rund zehn Jahre ausübte. Judäa galt als eine der schwierigen Provinzen des Römischen Reiches, mit schwelenden inneren Konflikten und der Nähe zur stets gefährdeten Ostgrenze des Reiches. Dort die Macht Roms durchzusetzen war heikel und voller politischer Risiken, und Pilatus’ Verhältnis zu den jüdischen Bewohnern seines Amtsbezirks war von Anfang an – gelinde gesagt – getrübt. Der jüdisch-römische Geschichtsschreiber Flavius Josephus berichtet[3], dass Pilatus Feldzeichen der Legion mit dem Bildnis des (gottgleich dargestellten) Kaisers heimlich nach Jerusalem hatte bringen lassen, was frühere Prokuratoren im Wissen um die Empfindlichkeit der jüdischen Gläubigen gegen Götzenbilder immer vermieden hatten. Die Empörung der Leute war entsprechend groß, und es kam zu Unruhen. Pilatus musste schließlich nachgeben, aber das Verhältnis zu den Juden blieb zerrüttet. Auch aus den Berichten der Evangelien ist das deutlich herauszulesen.
Schurke, Schwächling oder Heiliger…?
Über den Prozess Jesu soll Pilatus einen Brief an den Kaiser Tiberius geschrieben haben, was durchaus glaubhaft ist, auch wenn das tatsächlich überlieferte Schreiben als legendarisch gilt[4]. Immerhin haben die Geschehnisse großes Aufsehen erregt und nie Dagewesenes in Gang gesetzt. Pilatus wurde aber nicht das zum Verhängnis, sondern ein gewalttätiger Übergriff gegen die Samaritaner. Daraufhin wurde er im Winter 36/37 abberufen und nach Rom beordert[5]. Nach einem Hinweis in der Kirchengeschichte des Eusebius wurde er dort im Jahre 39 zum Selbstmord gezwungen. Die Ängste seiner Frau Procla[6] waren am Ende doch nicht unbegründet…
Diese Art der Bestrafung bzw. Beseitigung in Ungnade gefallener VIPs war damals in Rom keine Seltenheit. Wer sich politisch in die Nesseln setzte, riskierte nicht nur seine Karriere und seinen Job, sondern schnell auch sein Leben. Pilatus war das bewusst; man spürt es in seiner Reaktion auf Drohungen der Ankläger Jesu[7]. Dass er am Ende mehr an den Erhalt seiner Position dachte, dem Druck nachgab und die Warnungen seiner Frau in den Wind schlug, wurde ihm vielfach als tragische Schwäche ausgelegt.
Während Pilatus in der jüdischen Tradition als Ausbund des Bösen und geradezu archetypischer Judenfeind stilisiert wurde, finden sich in frühchristlichen Schriften vergleichsweise milde bzw. differenzierte Beurteilungen seiner Person. Immerhin hatte ja Jesus selbst gesagt: „Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre; darum liegt größere Schuld bei dem, der mich dir ausgeliefert hat“[8] Spätere, legendarisch überhöhte Traditionen versuchten eine regelrechte Rehabilitierung des Pilatus, was im 6./7. Jahrhundert sogar bis zur regional begrenzten Verehrung des Pilatus als eines Heiligen in der äthiopischen Kirche führte.
Über das Leben des Pilatus, über sein Denken und Handeln nach seiner Abberufung aus Judäa ist uns nichts Sicheres bekannt. Aber wie auch immer man seine Rolle im historischen Rückblick beurteilen mag, bleibt doch die Tatsache, dass er der Menschheit gewissermaßen stets präsent bleiben wird. Und seine schillernde Persönlichkeit ist offenbar zu jeder Zeit faszinierend. Dazu passt auch, dass manches von dem was er gesagt bzw. geschrieben hat, als fester Bestandteil in unsere Sprache eingegangen ist. Und dabei zeigt sich ein interessantes Bild.
Der absolute „Klassiker“ ist: Die Hände in Unschuld waschen.
Wie oft verwenden wir diese Formulierung – und ist uns nicht stets der Kontext präsent? Der Versuch, die eigene Verstrickung abzuwaschen, wie eine äußere Verschmutzung… In diesen wenigen Worten schimmert etwas von der Schwäche und Anfälligkeit des menschlichen Wesens durch. Im Grunde kennen wir das sehr gut. Es fehlt uns der Mut oder die Energie, um das zu tun, was wir eigentlich als richtig erkennen. Aber wir wollen die Schuld nicht auf uns sitzen lassen. Da versuchen wir es mit einer oberflächlichen Reinwaschung. Ich bin es nicht gewesen…
Was ist Wahrheit?
Mit dieser unsterblichen Frage hat sich Pilatus in die Herzen unzähliger Generationen eingeschrieben. Und ist das nicht genau der Geist unserer Zeit: Jeder hat seine Wahrheit, eine absolute gibt es nicht, wir nehmen es wie es uns gefällt…? Die meisten Zeitgenossen, gläubig oder nicht, werden irgendwie Gefallen finden an diesem Credo des Relativismus. Schließlich will ja auch niemand als Besserwisser oder als anmaßend erscheinen. Hochmut ist eine Hauptsünde, und die Relativierung der Wahrheit kommt gern im Gewande der Demut daher. Am Ende aber scheint doch oft genug der Geist des Pilatus durch, ob wir wollen oder nicht; wir halten uns die unbequeme Wahrheit lieber vom Leib!
Ecce homo!
Auch dieses Wort des Pilatus über den grausam gegeißelten Jesus ist gewissermaßen unsterblich geworden: Seht ihn euch an, den Menschen! Darin schwingt Mitleid mit, und die Frage, ob es nicht jetzt genug sei mit der Misshandlung. Aber man kann auch Geringschätzung darin sehen, so als wolle Pilatus sagen: wozu der ganze Aufstand? Der ist doch unbedeutend, längst erledigt! Und etwas Angst könnte auch darin gelegen haben; die Angstträume seiner Frau und vielleicht die Sorge, was noch aus diesem Prozess werden könnte, wenn die Sache irgendwie außer Kontrolle geriete… Und wieder fühlen wir, wie nahe uns diese Geisteshaltung ist. Wir wollen schon das Richtige, fühlen uns nicht wohl bei dem was geschieht, was wir (mit-) tun. Aber wir hoffen auf ein sachfremdes Argument, dass uns einer Entscheidung enthebt.
Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.
Mit diesen Worten weist Pilatus die Forderung zurück, die Aufschrift auf dem Kreuz Christi zu ändern. Nicht „König der Juden“ solle da stehen, sondern dass er nur behauptet habe dieser König zu sein. Pilatus rächt sich nun ein wenig an jenen, die ihn zur Verurteilung Jesu nötigten und bleibt bei dem was er geschrieben hat. Er will sich doch irgendwie absetzen von ihnen. Und so gelingt ihm unwissentlich ein weiterer unauslöschlicher Eintrag in das Buch der Menschheitsgeschichte. Über dem Kreuz steht es, in Lateinisch, Griechisch und Hebräisch: Jesus von Nazareth, König der Juden – Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum. Und die Abkürzung dieser Worte – I.N.R.I. – ist seither den Menschen aller Zeitalter und Weltgegenden bekannt, auf unzähligen Kruzifixen zu sehen – und damit ein weiteres Zeichen der historischen Realität, auf die auch der Name des Pilatus im Credo Bezug nimmt.
Fresco aus der Kapelle St. Stephan bei Morter im Südtiroler Vinschgau
[1]Der Glaube der Christen ist im Wesentlichen eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus, zum Mensch gewordenen Gott.
[2]Vgl. a. https://erziehungstrends.info/credo-4
[3]De Bello Judaico, II. Buch, Nr. 169 ff.
[4]RGG Bd. 5, Sp. 383.
[5]Offenbar nicht die erste und einzige Maßnahme rücksichtsloser Härte des Pilatus; vgl. Lk. 13, 1 ff: „Zu dieser Zeit kamen einige Leute zu Jesus und berichteten ihm von den Galiläern, die Pilatus beim Opfern umbringen ließ, so dass sich ihr Blut mit dem ihrer Opfertiere vermischte“.
[6]Mt. 27, 19: „Lass die Hände von diesem Mann, er ist unschuldig. Ich hatte seinetwegen heute Nacht einen schrecklichen Traum“.
[7]„Wenn du ihn freilässt, bist du kein Freund des Kaisers…!“ (Joh. 19, 12)
[8]Joh. 19, 11